Das Mädchen und der Schwarze Tod
sie nur noch wütender.
»Ihr wollt doch gar nicht, dass ich fortgehe! Wenn es nach Euch ginge, dann bliebe ich bis an mein Lebensende hier, nicht wahr?« Sie kämpfte mit den Tränen, denn sie wollte kein kleines Mädchen sein. Sie war inzwischen siebzehn Jahre alt und damit schon lange erwachsen.
»Wenn es nach Euch geht, werde ich hier verrotten und niemals glücklich sein!« Sie wischte ärgerlich die Tränen aus den Augenwinkeln.
Bei diesen Worten presste Pertzeval seine Lippen zu schmalen Strichen zusammen. Er sah auf das Wandbild seiner verstorbenen Frau und wirkte älter und müder denn je. Sich vorsichtig räuspernd trat er näher, die großen blutunterlaufenen Augen mitfühlend auf sie gerichtet. »Marike«, begann er leise, »der Herr Notke hat schlechte Kunde gebracht. Er war gerade im Haus Oldesloe. Ein Bote meldete den Tod von Gunther von Kirchow. Notke dachte, du wärst jetzt sicher gerne bei Lyseke. Um ihr Trost zu spenden.«
Die Nachricht ließ Marike schwanken, und sie war dankbar, als der Vater ihr auf eine der Bänke half.
Gunther von Kirchow tot. Was für ein Unglück. Was für ein schreckliches, großes Unglück! Der junge Mann hatte doch in der Blüte seines Lebens gestanden – kräftig, gesund, ohne gefährliche Tätigkeit -, wie konnte ausgerechnet er tot sein? Sicher kam nur ein Unfall in Frage. Denn warum sollte er sonst tot sein?
Offenbar hatte Marike einen Teil ihrer sich überschlagenden Gedanken ausgesprochen, denn der Vater strich ihr über das Haar, zuckte mit den Schultern und erwiderte mit belegter Stimme: »Ich weiß es nicht. Meister Notke berichtete, er sei vermutlich schlimm gestürzt.«
»Gestürzt?«, rief Marike. Und das jetzt, da eben die Hochzeit mit Lyseke beschlossen worden war. Die arme Freundin! Marike konnte nicht einmal erahnen, wie dieser jetzt zumute sein musste …
Das dämonische Bildnis auf der Brust des Flötenspielers schoss ihr durch den Kopf. Sie erinnerte sich seiner Worte. »Kümmere dich lieber um deine Familie und Freunde, statt in meiner Welt herumzustochern.« Der Gedanke daran lähmte sie für einen Augenblick. Der Mann hatte sie verflucht. Nun würde sie sehen, was Ungehorsam und Tugendlosigkeit für Folgen hätten.
»Ich werde …«, Marike erhob sich unsicher und strich sich sorgfältig das Kleid glatt, »ich werde hinübergehen zu Lyseke und nach ihr sehen.« Schon griff sie den Schal vom Tisch, legte ihn wieder zurück, da es ja draußen viel zu warm war. Dann sah sie sich nach den Holztrippen um, die sie auf der Straße stets über den Lederschuhen trug. Sie befanden sich dort, wo sie immer standen, nämlich unter dem Fenster zur Türe hin neben denen des Vaters.
»Beruhige dich doch erst einmal, mein Stern«, drang die Stimme des Vaters an ihr Ohr.
»Ich bin doch ruhig!«, stieß sie hervor, doch sie hörte den schrillen Ton ihrer Stimme. »Ich bin ganz ruhig«, wiederholte sie, um sich selbst zu überzeugen.
Der Vater strich ihr sanft über die Schulter. »Gut«, meinte er, dann rief er nach Alheyd. »Dann geh nur, mein Kind. Meine Aufwartung wird mich zum Haus der Familie von Kirchow führen. Aber du kümmre dich um Lyseke.«
Sobald die Magd herbei war, um sie zu begleiten, eilte Marike zur Türe. Sie stand schon auf der Straße, da rief der Vater noch einmal ihren Namen. »Der Herr Notke lässt dir übrigens eine gute Besserung ausrichten, Kind!« Er deutete auf ihren Kopf.
Marike nickte abwesend und lief dann die Straße hoch. Selten war ihr die Steigung der Johannisstraße so steil vorgekommen, oder ihre Beine so schwer und langsam. Am Brunnen bei der Apotheke an der Breiten Straße stierten ihr die Mägde und Wasserträger nach, als sie auf den kleinen Platz hinter der Marienkirche lief. Sie bog in die Schüsselbuden ab, ließ den geschäftigen Marktplatz links liegen und hastete schon das sanfte Gefälle der Braunstraße hinunter, als Alheyd noch an den Marktschreiern vorbeikeuchte.
»Du siehst durstig aus!« Ein magerer rothaariger Bursche trat Marike in den Weg und bot ihr einen Becher Wasser an. Dahinter balancierte offenbar der Vater an einem Joch auf der Schulter zwei Korbflaschen.
»Ich bin aber nicht durstig«, versuchte Marike den Burschen zu verscheuchen und weiterzueilen.
»Natürlich bist du das!«, behauptete der Bursche grinsend und zeigte dabei eine große Zahnlücke.
Die Kaufmannstochter hob beide Augenbrauen und schüttelte ärgerlich den Kopf. »Nein, bin ich nicht. Troll dich!« Der Bub zuckte mit den
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