Das Mädchen und der Schwarze Tod
Federhut. Notke lächelte stolz. Das Gewand war seinem Stand überhaupt nicht angemessen. Doch in Lübeck hielt man es mit der Kleidung wie in jeder großen Handelsstadt – jeder Bürger trug, was er bezahlen konnte.
Ungeduldig fuhr sich der Maler durch das Haar. Nach dem Auftrag in der Marienkirche war die Aufnahme in die Bruderschaft des heiligen Blasius ein Schritt auf der Leiter zum Erfolg. Damit würde der Maler auch Johannes Pertzeval beweisen, dass er, Notke, Marikes durchaus würdig war. Dessen misstrauische Ablehnung bei dem Gespräch am heutigen Mittag war beinahe greifbar gewesen.
Bei dem Gedanken an Marike erinnerte er sich der mutigen und großherzigen Tat, die die Jungfer gestern vollbracht hatte. Obwohl der Schmied auf Marike losgegangen war und sie gar verletzt hatte, war sie ihm zur Seite gesprungen, als die wütenden Fahrensleute den Kerl hatten hängen wollen. Der Maler wusste nicht genau, ob er ihr Handeln bewundern oder belächeln sollte, denn tatsächlich hatte sie sich damit selbst geschadet. Nun konnte sie nur hoffen und beten, dass der Mann seiner Retterin so dankbar war, dass er niemandem von der Begegnung erzählte. Notke selbst wäre dem Angreifer gegenüber nicht so gnädig gewesen.
Doch Marike hatte vorgestern etwas gesagt, was der Maler nicht vergessen konnte: »Niemand auf dieser Erde ist so unschuldig, dass er über jemand anderen urteilen könnte.« Während andere Leute bei Enthauptungen Erregung fanden, Menschen für ein paar Mark Lübisch abstachen oder Kranke und Hilflose ausraubten, um ihre letzte Habe zu verhökern, brachte diese Kaufmannstochter die Nächstenliebe Jesu Christi so prägnant auf den Punkt wie kaum ein Priester in seinem Sermon. Eine so schlichte und respektvolle Einstellung gegenüber seinen Mitmenschen war in diesen Zeiten etwas Besonderes.
Doch Notke teilte sie nicht. Er fand, dass ein Verbrechen mit einer entsprechenden Strafe geahndet werden musste. Wenn Verbrecher ungestraft davonkämen, wäre die Folge Selbstjustiz, Mord und Totschlag – und das zu recht. Notke wusste, dass er auch selbst zum Schwert greifen würde, wenn jemand einem geliebten Menschen etwas antäte und diese Schuld ungesühnt bliebe. Marike hatte dem Schmied verziehen – Notke aber würde sich sein Gesicht merken. Trotzdem hatte die Jungfer Pertzeval ihn zum Grübeln gebracht.
Gedankenversunken kratzte Notke sich die Farbreste von den Fingern. Die Züge von Kirchows im Gesicht seines »Edelmannes« waren noch nicht so lebendig, wie er sich wünschte, doch das musste nun warten. Den Totentanz hatte er in Sieverts beinahe zärtlichen Händen gelassen, bis der Küster Krontorp die Marienkirche absperrte. Der Maler dachte schuldbewusst daran zurück, mit welch morbider Genauigkeit er die Leichen einiger Menschen begutachtet hatte, die in den letzten Tagen auf teilweise kuriose Weise gestorben waren. Ein Kartäuser hatte es trotz des niedrigen Wasserstandes der Trave geschafft, in dem Fluss zu ersaufen, und ein Domherr von zweifelhaftem Ruf war von Schurken ganz umstandslos abgestochen worden. Obwohl die Menschen bereits tot waren, kam es ihm vor, als missbrauche er ihr Elend für sein Werk. Er hatte sich schon nach dem toten Kartäuser vorgenommen, damit aufzuhören, doch dann war die Nachricht von dem Tod Gunther von Kirchows eingetroffen, der ein junger Mann von Geblüt war und eine perfekte Vorlage für den Edelmann abgäbe. Danach hatte er von dem Tod des Domherrn gehört und sich dessen Körper im Dom angeschaut. Dieser Totentanz entwickelte einen Sog, der selbst seinen Maler beunruhigte. War es nur Zufall, dass Notke so perfekte Vorbilder für sein Gemälde fand? Er wusste es nicht. Aber was sollte es sonst sein? Der Tag des Jüngsten Gerichts? Er hatte keinen Anlass, so etwas zu vermuten.
Ungeduldig ging Notke auf und ab und bewunderte schließlich ein Marienbild auf einer Hauswand. Er wandte sich um und erstarrte. Vor ihm stand Bernt Lynow, der Schmied, dem er noch gestern im Rovershagen nach seinem Angriff auf Marike den Tod gewünscht hatte. Der Schmied glotzte stumpf zurück. »Notke, nicht wahr? Ich hätte nicht gedacht, Euch so schnell wiederzusehen!«
»Lynow, ich habe keine Zeit für Euch. Ich bin verabredet«, erwiderte der Maler unfreundlich.
»Oh, was Wichtiges, schätze ich?« Der Schmied wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn.
»Ja, etwas Wichtiges, Meister Lynow. Ich wäre dankbar, wenn Ihr mich allein ließet.«
Der Schmied nickte.
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