Das Mädchen und der Schwarze Tod
Anselmus in dem hinteren Bereich des abgeknickten Raumes vor den Augen Neugieriger verborgen.
Ein Rasseln schreckte Anselmus auf. Nun war er sicher, dass sich vorne am Eingang jemand herumtrieb. Wenn es der Küster mit dem Wasser war – warum trat der nicht einfach ein? Oder rumorten die Arbeiter des Rates da vorne? Der Bruder spähte vorsichtig um die Ecke, doch der Chorumgang vor der Ratskapelle war verwaist. Schritt für Schritt zwang er sich vorwärts. Er schob das Gitter auf und wagte sich aus der Kapelle heraus. Rechts stand ein Knabe am Altar der Knochenhauer, links passierte gerade eine Familie das Süderschiff und trat in die Leutekirche. Auf dem Boden lag eine golden glänzende Münze, die wohl verloren gegangen sein musste. Anselmus bückte sich instinktiv danach, um sie zu untersuchen. Auf ein Geräusch von oben drehte er, noch halb gebeugt, den Kopf hoch.
Was der Bruder sah, ließ ihn vor Schreck erstarren. Über ihm schwang an einem Seilzug ein dicker Sack, neben dem ein Gesicht mit fehlendem Ohr zu ihm herunterschaute. Dann rasselte eine Kette, der Sack fuhr auf ihn zu und traf ihn direkt an dem nach oben gedrehten Kopf. Der Franziskaner hörte noch das Klingen von Münzen, die über die Steinplatten des Kirchbodens sprangen. Dann versank die Welt um ihn herum.
KAPITEL 8
A uf den Grabplatten im Boden der Marienkirche leuchteten bunte Lichtinseln, wo die Sonne durch die hohen Mosaikfenster hereinschien. Im schimmernden Halbdunkel des riesenhaften Langhauses schienen die Altäre der Heiligen von einem Meer von Kerzenflammen zu erglühen. Tuscheln und Schaben erfüllten das Hauptschiff, während vom steinernen Lettner getragener Chorgesang herunterschallte. An mehreren Stiftaltären wurden Andachten gehalten, am Seelaltar vor dem Lettner bereiteten Priester und Altardiener die Totenmesse vor. Doch nicht einmal die Schwätzertafel, die dem unnütz Redenden die Verdammnis verhieß, konnte den Lärmpegel aus Wispern, Raunen, Weinen und Kichern niedrig halten.
Johannes Pertzeval neigte Haupt und Knie vor dem Hochaltar und bekreuzigte sich mit Weihwasser vor dem Erlöser, wie es Sitte war im Haus des Herrn, und Marike und das Gesinde taten es ihm gleich. Diese durch den Backstein so erdig wirkende Kirchhalle war der jungen Frau eine zweite Heimat. Die zahllosen kostbaren Flügelschreine an den Säulen und in den Wandkapellen übertrafen sich gegenseitig an Pracht, doch Marike hatte kein Auge für sie.Trotz des traurigen Anlasses galt ihr Blick wie stets zuerst dem hohen Himmel der Kirche, der sich doppelt so hoch über den Gläubigen erhob als selbst der des Doms. Für die Kaufleute war dies ein steter Quell der Schadenfreude, doch sie liebte die Anmut des Gebäudes. Das helle Kreuzgewölbe mit den bunten Blätterranken an den Rippen war Marike so vertraut wie jeder einzelne der vielen Backsteinpfeiler, die teilweise mit weißer Tünche übermalt und mit Fugenmalerei verziert waren.
Halb Lübeck schien sich zur Bestattung des jungen Edelmannes Gunther von Kirchow versammelt zu haben, denn die Familie des Toten genoss großes Ansehen in der Stadt. So fand man die mächtigsten Familien der Stadt in ihren schönsten Gewändern im Zentrum der Kirche unter dem Lettner versammelt. Weiter hinten, zwischen der großen Annenkapelle im Südbereich und dem Olav gewidmeten Bergenfahrer-Altar, war eine Platte aus dem Boden entfernt worden, die ein Steinmetz kunstvoll bearbeiten würde. Der junge Mann würde hier in der Marienkirche bestattet werden, in der er eigentlich in Kürze Lyseke Oldesloe hatte ehelichen wollen. Dieser Gedanke barg so viel Traurigkeit, dass Marikes Augen feucht wurden. Sie sehnte sich so sehr danach, wieder mit der Freundin versöhnt zu sein! Also stellte sie sich auf die Spitzen ihrer Trippen und sah sich um, doch der vertraute Lockenkopf war nirgends zu sehen.
Die Pertzevals waren mit ihrer Dienerschaft gekommen und hatten sich ihre guten Gewänder angezogen, auch wenn die nicht mehr ganz der Mode entsprachen. Marike trug trotz der Hitze ein reich verziertes blaues Kleid mit Beutelärmeln. Zu einem solchen Ereignis musste man zeigen, wer man war, selbst wenn man den Pomp so verachtete wie Johannes Pertzeval. Vater und Tochter gesellten sich zu der Menschenmenge, die bereits der Totenmesse lauschte. Marike wollte ihren Rosenkranz hervorziehen, doch er war weder um ihren Hals gelegt noch am Gürtel. Eine schnelle Suche in Börse und Ärmeltaschen brachte auch nichts zutage. Wann hatte sie
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