Das Mädchen und der Schwarze Tod
ihn das letzte Mal gesehen? Hatte sie das gute Stück etwa bei ihrem überstürzten Aufbruch aus dem Heiligen-Geist-Hospital verloren?
Vom Lettner her erklang der Psalm »de profundis« in einem schlichten, mehrstimmigen Jungenchoral. Marike mochte diese lateinischen Verse. »Aus der Tiefe, Herr, habe ich zu dir gerufen. Herr, höre meine Stimme! Wende dein Ohr mir zu, achte auf mein lautes Flehen! Würdest du, Herr, unsere Sünden beachten – Herr, wer könnte bestehen?« Die Kaufmannstochter musste daran denken, dass ihr Vater vor ein paar Tagen etwas ganz Ähnliches gesagt hatte: »Wenn’s nach der Sünde ginge, würde der Herrgott die Pest schicken und erst wieder von uns nehmen, wenn niemand mehr steht.« Sie hatte den Satz der Verbitterung eines alten Mannes zugeschrieben. In den letzten Tagen hatte sie erkannt, wie zutreffend seine Worte gewesen waren.
Seit dem Besuch im Heiligen-Geist-Hospital fühlte Marike eine gewisse Unruhe. Selbst bei dem Gang zur Kirche hatte sie sich dabei ertappt, wie sie Ausschau nach Beobachtern gehalten hatte. Zu ihrem Schrecken fühlte sie sich nicht einmal in ihrem eigenen Haus mehr sicher. Dabei sehnte sie sich so sehr nach jener Geborgenheit, die sie in den Armen des Malers beim Tanz im Rovershagen empfunden hatte. Der Maler Notke mochte zwar ohne große Illusionen auf die Welt schauen und für alles und jeden seinen trockenen Humor bereithalten, doch sie vertraute ihm. Insgeheim hoffte sie, ihn hier zu treffen. Wo, wenn nicht in der Kirche, in der er sein Gemälde vollendete?
Zu Hause war bereits der ganze Morgen von Ungeduld erfüllt gewesen. Sie hatte gespannt auf Pater Martin gewartet, um zu erfahren, ob er gestern etwas über den Flötenspieler hatte herausfinden können. Doch der Pater war nicht gekommen. Sie selbst hatte am Morgen fast dem Vater von allem erzählt. Das Einzige, was sie schließlich davon abgehalten hatte, war die Furcht, dass er sie vor lauter Sorge gar nicht mehr aus dem Hause lassen würde – egal, ob er ihr glaubte oder nicht.
Immer wieder wippte Marike ungeduldig auf und ab, um den Blick über die Menge schweifen zu lassen. Statt der drei von ihr erwarteten Freunde fielen ihr dabei Kunigunde und Catharine von Calven auf. Marike hatte ganz vergessen, dass die beiden in der vorgestrigen Nacht ihren Gemahl und Vater verloren hatten – auf recht anrüchige Weise, wie es in der Gesellschaft hieß. Es gehörte nicht gerade zum guten Stil, frühmorgens in einem Wasserleitungsloch aufgefunden zu werden. Umso mehr überraschten die beiden Frauen mit ihrer Heiligenkleidung: beide trugen mariengleiche blaue Tasselmäntel über den Gewändern und schienen trotz ihres Verlusts zu strahlen.
»Ich will rasch Catharine von Calven mein Beileid bekunden, Vater, ja?«, fragte Marike artig und leise, denn der schmale kleine Domherr Nikolaus hatte vorne am Altar mit der Messehandlung begonnen, während aus dem Marientidenaltar ein magnificat herüberklang.
Der alte Pertzeval nickte müde. »Geh nur. Ich habe ja Hinrich, der auf mich achtgibt.«
Marike warf dem Vater noch einen liebevollen Blick zu, dann winkte sie Alheyd herbei, und die beiden Frauen schoben sich vorsichtig durch die Menge zu den von Calvens. Hier neigte sie freundlich das Haupt. »Catharine«, sprach sie leise, »mein herzliches Beileid. Ich werde dafür beten, dass dein Vater vom Herrn ins Reich des Himmels aufgenommen wird.«
Als Catharine sich ihr zuwandte, schreckte Marike zurück. Auf den Lippen des Mädchens lag ein geradezu beseligtes Lächeln. »Aber das wurde er doch bereits, Marike«, erwiderte sie fromm.
Einen kurzen Augenblick lang zweifelte Marike an dem Verstand der Bürgermeisterstochter. Dann wandte sich auch Kuneke von Calven um und trug ein älteres Abbild des seligen Lächelns auf ihrem Gesicht. »Marike Pertzeval!« Irritiert neigte Marike das Haupt. Sie konnte sich nicht daran erinnern, dass Frau von Calven sie schon einmal freiwillig angesprochen hätte. »Auch Euch mein Mitge-« Doch weiter kam sie nicht. Kunigunde von Calven schob sich auf sie zu, ergriff mütterlich ihre Hände und küsste sie, noch immer voll frommer und versonnener Freude.
»Jubiliere mit uns, Jungfer, denn wir danken dem Herrn!«, hauchte sie erregt. Marike nickte. »Das will ich gerne tun, Frau von Calven. Was erfreut Euch denn solchermaßen, dass -«
»Unser Wilhelm ist noch im Tod vom Sohn Gottes gesegnet worden! Ist das nicht wunderbar?«, strahlte die Frau.
Verwirrt stotterte Marike:
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