Das Mädchen und der Zauberer
abgegeben, Monsieur …«, sagte er und wartete, bis Aubin ihm zwei Francs gegeben hatte.
»Wer hat das abgegeben?« fragte Aubin und trug das Päckchen zum Fensterbrett.
»Ein schwarzer Bote.« Er betonte das schwarz, denn er war selbst ein Kreole. Das ist ein großer Unterschied und darauf war er stolz. »Auf einem Moped.«
Aubin nickte, wartete, bis der Boy die Tür hinter sich zugezogen hatte und schnitt dann mit einem Taschenmesser die Verschnürung auf. Er wickelte einen Kasten aus, öffnete den Deckel und sah eine 9-mm-Pistole und einen Karton mit hundert Patronen. Stahlmantelmunition, mit abgeflachter Spitze. Das gab Löcher, die kaum einer überlebte.
Aubin zerknüllte das Einwickelpapier, warf es in den Papierkorb und steckte die Pistole in die rechte Hosentasche. Es sah so aus, als sei er diese Bewegung gewöhnt.
Die Fahrt mit dem weißen Luxusschiff von San Juan nach Martinique war für Petra Herwarth ein einziger Rausch. Das Schiff sprang gewissermaßen von Insel zu Insel, zuerst nach St. Croix, dann nach St. Kitts, Antigua, Guadeloupe und Dominica. Als dann im Sonnendunst am Horizont Martinique auftauchte, stand Petra an der Reling, bis sie in die weite Bucht von Fort de France einliefen. Die ganze karibische Küste Martiniques zog an ihr vorbei, das Urwald- und Felsmassiv des Mont Pelée, die Strände und Dörfer, die Ruinenfelder der Stadt St. Pierre, die am 8. Mai 1902 von einem gewaltigen Ausbruch des Vulkans Pelées verschüttet und zerstört worden war, 30.000 Menschen kamen dabei ums Leben, von morgens 7.50 Uhr bis 7.52 Uhr, in genau zwei Minuten, in denen der Berg geköpft wurde und eine Wolke aus glühender Materie sich in das Tal und über die Stadt ergoß. Nur einer von 30.000 überlebte, ein kleiner Verbrecher, der in Einzelhaft in einer unterirdischen Zelle des Gefängnisses von St. Pierre hockte. Er hieß Siparis, war ein Trunkenbold und wurde nach seiner Rettung im Zirkus Barnum in der Manege herumgeführt als der Mann, der aus der Hölle entronnen ist und als Beweis von Gottes Güte, so hirnverbrannt das in diesem Fall auch war. Denn der vernichtende Feuerregen fiel auch über die Kathedrale von St. Pierre, in der an diesem Morgen Hunderte von Gläubigen zu Gott flehten, der seit Wochen unruhige Mont Pelée möge sie verschonen. Nicht einer überlebte in der Kirche.
Die Küste glitt an Petra vorbei, und sie sah nun alles mit eigenen Augen, wovon sie so oft den Kunden in Hamburg erzählt hatte, die sich nach Martinique erkundigten. René hatte recht: Prospekte sind trotz der schönen bunten Bilder nur ein Schatten der Wirklichkeit.
Das hier, die ganze Schönheit der Welt, muß man gesehen haben, muß man mit den Augen trinken und in der Seele speichern, muß man wie einen Schauer auf der Haut spüren und gleichzeitig die Angst, daß die Zeit viel zu schnell vorbeirast, um nur einen Teil dieses Paradieses zu erfassen.
Mein neues Leben, dachte Petra Herwarth. Da liegt es vor mir. Das da muß Le Carbet sein … und jetzt kommt Bellefontaine … Case-Pilote … Schoelcher … und da sind die Türme von Fort de France … da öffnet sich die grandiose Bucht, da leuchten die Segel … da sind die hohen, dicken Mauern des Fort St.-Louis mit ihrem schlanken, weißgekalkten Leuchtturm … und auf der anderen Seite der Bucht die herrliche Halbinsel Trois-Ilets mit der Pointe du Bout, seinen schneeweißen Stränden und den Luxushotels, dem Yachthafen und dem Geburtshaus der Kaiserin Josephine, die Domaine de la Pagerie.
Welch eine Insel! Welch eine neue Heimat! Und das, was sie jetzt sah, war nur ein kleiner Teil … im Süden mußte die Küste ein einziger leuchtender Badestrand sein, die Atlantik-Seite sollte einen ergreifen mit seinen Hunderten Buchten und einer vom Meer zerrissenen wildherrlichen Küste und da, wie eine Feder in die rauschende See geworfen, auch die bizarre Halbinsel von Tartane, an deren Ende, an der Pointe du Diable – wie der Name schon sagt – des Nachts der Teufel heult.
Martinique … als am 15. Juni 1502 Christoph Kolumbus bei Le Carbet, in der Bucht von Anse Turin, landete, rief er aus: »Das ist das Allerschönste!«
Was kann man mehr sagen?
Mit brennenden Augen sah Petra hinüber zu dem näher kommenden Fort de France. Dort drüben wartet jetzt René, dachte sie glücklich. Er wird ein Fernglas haben und unser Schiff schon lange sehen. Wie lange wird es dauern, bis wir an der Pier von Carénage sind? Noch eine halbe Stunde? Noch eine lange, lange halbe
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