Das Mädchen und die Herzogin
war sie weit genug entfernt, sodass niemand sie bei diesem unziemlichen Müßiggang würde überraschen können.
Sie schloss die Augen und versuchte sich Vitus vorzustellen: sein Gesicht, seine Gestalt, sein Lächeln, die lustigen Grübchen in den Wangen. Es gelang ihr nicht. So ewig war es nun schon her, seitdem sie sich das letzte Mal gesehen hatten, einendlos langes Jahr, damals bei der Kirbe in Untertürkheim, als alles angefangen hatte. Als dieser unselige Aufruhr wie ein Flächenbrand begonnen und ihr am Ende den Geliebten geraubt hatte. Wie lange sollte sie noch auf Nachricht von ihm warten? Sollte sie überhaupt auf Vitus warten? Was, wenn er niemals zu ihr zurückkehrte? Gilgens jüngerer Bruder Marx machte ihr ohne Umschweife den Hof, seit dem Maienfest vor einer Woche, und mit ihren inzwischen sechzehn Jahren war sie im richtigen Alter zum Heiraten. Marx war ein hübscher Bursche und obendrein Sohn eines reichen Vollbauern, jedes Mädchen im Dorf würde sich die Finger nach so einem ablecken. Aber Marie fand ihn grob und aufdringlich, dabei von sich selbst eingenommen wie der verwöhnte Sprössling eines Landgrafen.
Dann schon lieber der junge Pfarrer, dachte sie und erschrak im selben Moment heftig über diesen Gedanken. Nur so etwas zu denken war schon Sünde! Allerdings machte Casimir Muthlein es ihr nicht eben leicht, mit seiner Freundlichkeit und seinem strahlenden Lächeln. Erst neulich hatte er ihr über den zerbrochenen Steg beim Mühlbach geholfen und sie dabei länger als nötig in den Armen gehalten. Seither war sie ihm aus dem Weg gegangen. Es gab ohnehin nichts Neues zu erfahren über Vitus. Irgendwo in diesem fernen Alpenland lebte er jetzt wohl und hatte womöglich ein neues Mädchen.
Marie seufzte. Also doch der Schladerer Marx? Das war allemal besser, als in der elenden Hütte ihrer Muhme zu versauern. Sie könnte sich von Marx ein halbes Jahr Bedenkzeit erbitten, bis Martini etwa – und wenn bis dahin keine Nachricht von Vitus käme, würde sie –
Ein dumpfes Dröhnen riss sie aus ihren Grübeleien. Kaum hörbar zunächst, eher ein leichtes Zittern des Waldbodens unter ihrem Kopf, hatte es sich in das Gezwitscher der Vögelgeschlichen. Sie richtete sich auf. Es klang nach unzähligen Hufschlägen und Stiefeltritten, nach einer ganzen Heerschar von Reitern und Fußvolk. Deutlich hörte sie jetzt auch das Knacken von Zweigen und die Rufe kräftiger Männerstimmen. Herr im Himmel – wenn das nun eine herzogliche Jagdgesellschaft war? Durfte sie hier im Bannwald überhaupt Kräuter pflücken?
Eilig riss sie den prallvollen Sack an sich und rannte ins nahe Unterholz. Da näherten sie sich auch schon der Lichtung: Zu ihrer Rechten erkannte sie zwanzig, dreißig Treiber zu Fuß, einfache Bauersleut wie sie selbst, die mit Stangen den Forst durchkämmten, um Wild aufzuspüren und auf die Lichtung zuzutreiben. Einer von ihnen kam ihr dabei so nahe, in ihrem Versteck unter dem umgestürzten Fichtenbaum, dass sie den Arm nach ihm hätte ausstrecken können. Vor Schreck hielt sie den Atem an und kauerte sich auf dem feuchten Boden zusammen, bis der Mann vorüber war. Dann kam, über den Forstweg von der gegenüberliegenden Seite, die Kavalkade der herzoglichen Jagdgesellschaft herangetrabt: vorweg der Jägermeister mit seinen Knechten und Hunden, ihm hinterdrein ein schwerbewaffneter Mann in halbem Harnisch, in dem Marie erst auf den zweiten Blick den Herzog selbst erkannte. An seiner Seite, auf einem leichten Jagdpferd und ungerüstet, ritt ein Jüngling mit hübschem Gesicht und langem Blondhaar unter dem Federhut. Im Schatten einer alten Eiche zügelte der Herzog sein Ross.
«Reitet ihr nur schon voran, zum Buchenwald dort hinten», hörte sie ihn rufen. «Da finden sich immer ein paar Schwarzkittel. Mein Stallmeister und ich folgen gleich nach. Wir haben noch etwas zu besprechen.»
Maries Herz pochte ihr bis zum Hals. Die Eiche stand nur einen Steinwurf von ihrem Versteck, und die beiden Männermachten keinerlei Anstalten, weiterzureiten, während sich die Lichtung allmählich leerte.
Was dann geschah, würde Marie ihr Lebtag nicht vergessen. Kaum waren die beiden Männer allein, begann der Herzog mit einer Stimme, als bräche er gleich in Tränen aus. «Ich flehe dich ein letztes Mal an, Hans: Nimm dein Gesuch um Entlassung zurück! Bleib mit ihr in Stuttgart und zieh in das Haus, das ich euch schenke. Es ist doch für uns alle das Beste.»
Der Blonde schüttelte den Kopf. «Ich kann
Weitere Kostenlose Bücher