Das Mädchen vom Amazonas: Meine Kindheit bei den Aparai-Wajana-Indianern
Riesenlibellen, unscheinbare Sittiche, die sich durch das Grün ihres Gefieders nur unmerklich vom Laub der Bäume abhoben. Oder einen schuppigen Leguan, der sich sonnte. Doch Fehlanzeige. Nicht einmal ein paar kreischende Affen konnte ich ausmachen, die sonst ein Boot für ein paar Minuten auf seinem Weg begleiteten, indem sie sich am Ufer angeberisch von Ast zu Ast schwangen. Auch keine Araras (Aras) oder Künolos konnte ich entdecken, jene prächtigen bunten Papageien mit ihrem schillernden Regenbogengefieder, aus dem die Männer ihren Federschmuck für die Tanzfeste machten.
»I rgendetwas stimmt hier nicht«, hörte ich Jackä sagen. Inaina schien ebenfalls beunruhigt. Er schaute nach hinten, nach vorne, er spähte angestrengt nach links, dann wieder nach rechts. Es schien, als scanne er jeden Meter des Ufers mit seinen Augen ab. Unvermittelt blieb sein Blick plötzlich an einem Baum hängen, wo er offenbar etwas entdeckt hatte, das die eigentümliche Stille erklärte.
»D a!«, stieß Inaina aus und zeigte hastig auf irgendetwas in den Bäumen, das ich nicht einmal mit zugekniffenen Augen ausmachen konnte.
»W o?«, fragte Jackä, der seine Hand über die Augen legte, um die Sonne ein wenig abzuschirmen. Sinnigerweise trug er den Schirm seiner Baseballkappe im Nacken. Auch meine Mutter starrte angestrengt in die Richtung, in die Inaina zeigte. Während ich immer noch nichts erkennen konnte, brach im Boot Unruhe aus.
»O h, nein«, hörte ich, und: »D ie Geister mögen uns beistehen.«
Als ich aufstehen wollte, um besser sehen zu können, drückte mich meine Mutter energisch auf die Sitzplanke zurück. »W ir müssen jetzt ganz, ganz still sein, hörst du?«, beschwor sie mich mit versteinertem Gesicht und legte den Zeigefinger an die Lippen. Ich versuchte an ihr vorbeizuschauen und kniff meine Augen angestrengt zusammen. Doch ich konnte absolut nichts erkennen.
»S obald wir vorbei sind, schmeißen wir den Motor an und geben Gas, bis wir sie hinter uns gelassen haben«, flüsterte Inaina.
Wovon sprachen die nur? Nirgendwo war etwas Bedrohliches zu sehen, kein Jaguar, keine Ituakeré, jene wilden Waldmenschen, die wir fürchteten, auch keine bewaffneten Goldschürfer, welche die Aparai als Räuber ihrer Bodenschätze bezeichneten.
Inaina gab ein Handzeichen, dann tauchten die Männer die Paddel lautlos ins Wasser. Selbst meine Mutter griff jetzt zum Ruder. Ihre übergroße Sonnenbrille steckte auf ihrem Kopf wie ein Haarreifen. Zwischen ihren Augen hatte sich eine kleine, steile Stirnfalte gebildet, um ihren Mund zeichneten sich zwei feine Furchen ab. Sie war offenbar höchst angespannt. Inaina flüsterte meiner Mutter etwas zu. Sie nickte und beugte sich zu mir: »W ir sind in großer Gefahr. Sei schön still und duck dich nach unten.«
Nun bekam ich es mit der Angst zu tun. Vielleicht ging es hier ja um böse Jolokos, um Geister? Mein Herz klopfte so laut, dass ich meinte, die anderen könnten es hören. So etwas hatte meine Mutter noch nie zu mir gesagt.
Und dann passierte, was nicht passieren durfte. Nach einem weiteren Handzeichen von Inaina versuchte Jackä mit einem kräftigen Zug am Anlasserkabel den Außenborder anzuwerfen. Nach einem kurzen, sehr lauten Ratterratterrat soff der Motor ab. Jackä zog erneut am Anlasser. Mit ohrenbetäubendem Krach setzte sich der Motor in Gang, unser Boot schob sich mit einem Ruck ein paar Meter vorwärts – und blieb wieder stehen. Noch einmal gab Jackä alles. Es musste einfach klappen, der Motor lief doch sonst wie geschmiert. Aber es nützte nichts, nach einem kurzen Stottern verstummte der Motor jedes Mal. Der Benzingestank hüllte uns wie eine Wolke ein. Jackä zog die Schultern hoch, er schien ratlos. Inaina und meine Mutter griffen verzweifelt zu ihren Paddeln und begannen wieder zu rudern.
Sehr weit kamen wir jedoch nicht.
Ein riesiger Schatten löste sich aus dem Dickicht des Ufers und hielt direkt auf uns zu. Er kam näher und näher, mit einem bedrohlichen Summen, das immer stärker anschwoll. Jackä zerrte verzweifelt am Anlasser. Wenn der Motor sich doch nur endlich in Gang setzen ließe! Laut schimpfend trommelte er auf die Abdeckung des Außenborders ein. Was er sagte, konnte ich nicht verstehen, er sprach Tirio, wenn er fluchte. In seinem Gesicht stand die schiere Verzweiflung. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie die Wolke zunächst Geschwindigkeit aufnahm, dann für einen kurzen Moment in der Luft stehen zu bleiben schien, bevor sie sich auf
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