Das Mädchen vom Amazonas: Meine Kindheit bei den Aparai-Wajana-Indianern
uns herabsenkte. Die Erwachsenen schmissen sich panisch und ohne Vorwarnung mit voller Wucht auf mich. Ich weiß nur noch, dass ich verzweifelt nach Luft japste und meinte zu ersticken. Geistesgegenwärtig hatte Mama ein Tuch auf mich geworfen, bevor sie, Jackä und Inaina sich kreuz und quer über mich gelegt hatten. Eine gefühlte Tonne Menschenmasse drückte mich unter die Sitzplanken in den Bootsbauch. Das Gepäck unter mir bohrte sich schmerzhaft in meine Rippen, das Schilfrohr der geflochtenen Körbe begann unter dem Gewicht bedrohlich zu knacken. Meine Mutter schrie vor Schmerz auf, Inaina und Jackä wimmerten. Ein klägliches Jaulen, wie das der Hunde im Dorf, wenn sie von einem Holzscheit getroffen wurden. Dazwischen das Summen und Brummen unzähliger angriffslustiger Hornissen. Danach verlor ich kurzzeitig das Bewusstsein.
Als ich wieder zu mir kam, waren das Brummen und die Schmerzensschreie einer unheimlichen Stille gewichen. Nur das sanfte Klatschen der Wellen gegen unser Boot, das ziellos über den Fluss schaukelte, war zu hören. Zwei unserer drei Paddel waren bei dem Angriff der Insekten über Bord gegangen. Ein Boot ohne Ruder und ohne funktionierenden Motor war dem reißenden Strom wie eine Nussschale ausgeliefert.
Die Erwachsenen waren am ganzen Körper mit Stichen übersät. Sie hatten den Angriff des Hornissenschwarms ungeschützt abbekommen, jeder Einzelne von ihnen hatte mehr Stiche, als er zu zählen vermochte. Besonders am Kopf, über den Augen und im Nacken. Mama, deren Haut mit dicken roten Pusteln überzogen war, erkundigte sich besorgt, ob mit mir alles in Ordnung sei. Ich nickte stumm. Das Gleiche hätte ich sie auch gerne gefragt, doch ich traute mich nicht, so schlimm sah sie aus. Jackä und Inaina konnten sich kaum auf den Beinen halten. Immer wieder schöpften sie mit den Händen Wasser aus dem Fluss, um die Schwellungen in ihren Gesichtern zu kühlen. Es dauerte, bis Jackä seine letzten Kräfte mobilisieren konnte, um sich noch einmal mit dem Motor abzumühen. Mit einem Paddel allein würden wir es nie bis Aldeia Bona schaffen. Wir hatten Glück im Unglück, der Stottermotor sprang problemlos an, als wäre nichts gewesen.
Als unser Boot Bona endlich erreichte, waren die Erwachsenen schier ohnmächtig vor Schmerzen. Jackä musste von vier Männern die steile Uferböschung hinaufgetragen werden. Er hatte am meisten abbekommen. Inaina mühte sich, aufrecht die Böschung zu erklimmen, zwei kräftige junge Jäger, kaum älter als er selbst, stützten ihn unter den Schultern. Mama und ich wurden von den Frauen und Kindern in Empfang genommen und von ihnen zur provisorischen Krankenstation der Indianerschutzbehörde Funai begleitet. Die Station war ein kleiner Bretterverschlag, ausgestattet mit dem Allernötigsten. Als uns der Arzt aus der Stadt, mit dem meine Mutter verabredet war, erblickte, konnte man ihm das Entsetzen am Gesicht ablesen. »M eu Deus!«, entfuhr ihm auf Portugiesisch. Er redete aufgeregt auf uns ein, was um Himmels willen mit uns passiert sei, ob wir Schmerzen hätten, wie viele Stiche wir abbekommen hätten. Meine Mutter bemühte sich, möglichst sachlich zu berichten, was geschehen war. Der Arzt schaute sie ungläubig an, und ich bemerkte, wie viel Kraft es Mama kostete, nicht laut loszuheulen.
»M ein Gott, Schlangenbisse, unzählige, ja. Aber so etwas …«, fassungslos schüttelte er den Kopf, während er mit der Behandlung begann. Ich erinnere mich noch vage daran, dass die Männer hohes Fieber hatten und der Arzt ihnen und meiner Mutter eine Spritze verpasste. Vermutlich Schmerzmittel. Anschließend wurden die Hornissenstiche mit einer übel riechenden Paste eingeschmiert und verbunden.
Zu mir sagte der Doktor: »D as ist unglaublich! Du musst wirklich mehr als einen Schutzengel gehabt haben!« Während er das sagte, machte er Flatterbewegungen wie ein Vogel. Dabei verstand ich sehr wohl, was er mit Schutzengel meinte. Ich glaubte nur nicht daran.
In den Seitentaschen meines Hängekleids tastete ich nach dem Jaguarzahn, den mir Pulupulu am Morgen geschenkt hatte. Ich hatte einen guten Geist als Beschützer!
»D ie Kleine hat nicht einen einzigen Stich«, murmelte er noch einmal, als eine Krankenschwester mit kühlenden Kompressen in die kleine Station kam. Die Schwester nickte und tätschelte mir die Wange, als sei das allein mein Verdienst.
»D ie Stiche, die der da abbekommen hat«, sagte der Arzt und deutete auf eine mumiengleich verpackte, stöhnende
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