Das Mädchen.
gestern auf sie zu. Nur werde ich heute nicht in Panik geraten und losrennen, dachte sie. Heute habe ich Eiswasser in meinen Adern.
Eine Stunde verstrich, dann zwei. Der Untergrund wurde nicht fester, sondern noch sumpfiger. Schließlich gab es außer den Schilfinseln gar keinen festen Boden mehr. Trisha sprang von einer zur anderen, hielt ihr Gleichgewicht mit Hilfe von Büschen und Zweigen, wo es welche gab, oder breitete ihre Arme wie eine Seiltänzerin aus, wenn sich nirgends ein Halt bot. Schließlich erreichte sie eine Stelle, an der sie zu keiner Schilfinsel mehr hinüberspringen konnte. Sie machte kurz halt, um sich gegen den Schock zu wappnen, stieg dann ins stehende Wasser, schreckte eine Wolke Wasserkäfer auf und setzte torfigen Verwesungsgestank frei. Das Wasser reichte ihr nicht ganz bis zu den Knien. Die Masse, in der ihre Füße versanken, fühlte sich wie kaltes, klumpiges Gallert an. Aus dem aufgewühlten Wasser stiegen gelbliche Blasen auf; in ihnen wirbelten schwarze Fragmente ungeklärter Herkunft herum. »Kraß«, ächzte sie auf dem Weg zur nächsten Schilfinsel. »Oh, kraß. Kraß-kraß-kraß. Echt zum Kotzen.« Sie bewegte sich mit großen torkelnden Schritten vorwärts, von denen jeder mit einem kräftigen Ruck endete, wenn sie ihren Fuß wieder aus dem Schlamm zog. Sie versuchte, nicht daran zu denken, was geschehen würde, wenn sie das nicht mehr konnte, wenn sie im Bodenschlamm steckenblieb und zu versinken begann.
»Kraß-kraß-kraß.« Das war ein Singsang geworden. Schweiß lief ihr in warmen Tropfen übers Gesicht und brannte in ihren Augen. Die Grillen schienen bei einem einzigen hohen Ton hängengeblieben zu sein: riiiiiiii. Von dem Erdhügel, der ihr nächstes Zwischenziel war, sprangen drei Frösche aus dem Gras ins Wasser: plip-plip-plop. »Bud-Wei-Ser«, machte Trisha mit schwachem Lächeln die Reklame nach.
In der gelb-schwarzen Brühe um sie herum schwammen Tausende von Kaulquappen. Während sie auf die Tiere herabsah, stieß ihr einer Fuß gegen etwas Hartes, das mit Schleim überzogen war - wahrscheinlich ein Stück Baumstamm. Trisha gelang es, ohne zu fallen darüber hinwegzukommen und den Erdhügel zu erreichen. Sie zog sich keuchend ins Gras hoch, betrachtete ängstlich ihre mit schleimigem Schlamm überzogenen Füße und Beine und erwartete fast, sie mit sich windenden Blutegeln oder noch Scheußlicherem bedeckt zu sehen. Sie fand nichts Schlimmes (zumindest nichts, was zu erkennen gewesen wäre), aber sie war bis zu den Knien hinauf mit Morast überzogen. Als sie ihre Socken abstreifte, die jetzt schwarz waren, sah die weiße Haut darunter mehr wie Socken aus als die Socken selbst. Darüber mußte Trisha wie verrückt lachen. Sie sank auf ihre Ellbogen gestützt nach hinten und heulte zum Himmel hinauf; sie wollte nicht so lachen, nicht wie (Verrückte) eine völlig Schwachsinnige, aber sie konnte nicht gleich damit aufhören. Als sie sich endlich wieder beruhigt hatte, wrang sie ihre Socken aus, zog sie wieder an und stand auf. Sie blieb mit einer über die Augen gelegten Hand stehen, suchte sich einen Baum aus, von dem ein großer abgebrochener Ast ins Wasser herabhing, und erklärte ihn zu ihrem nächsten Zwischenziel.
»McFarland holt aus, McFarland wirft«, sagte sie müde und setzte sich wieder in Bewegung. Sie dachte schon lange nicht mehr an Beeren; sie wollte hier nur noch heil herauskommen.
Es gibt einen Punkt, an dem Menschen, die auf ihre eigenen Reserven zurückgeworfen sind, zu leben aufhören und mit dem bloßen Überleben beginnen. Ein Körper, dessen frische Energiequellen versiegt sind, greift auf gespeicherte Kalorien zurück. Das Denkvermögen beginnt nachzulassen. Das Gesichtsfeld verengt sich und wird zugleich extrem klar. An den Rändern werden die Dinge unscharf. Diese Scheidelinie zwischen Leben und Überleben erreichte Trisha McFarland, als ihr zweiter Nachmittag im Wald sich seinem Ende zuneigte.
Daß sie jetzt genau nach Westen unterwegs war, machte ihr keine großen Sorgen; sie dachte (vermutlich zu Recht), es sei gut, ständig eine bestimmte Richtung einzuhalten - das Beste, was sie tun konnte. Sie war hungrig, war sich dieser Tatsache aber die meiste Zeit über nicht sonderlich bewußt; sie konzentrierte sich zu verbissen darauf, eine gerade Linie einzuhalten. Fing sie an, nach links oder rechts von der Ideallinie abzuweichen, war sie vielleicht noch in diesem stinkenden Morast, wenn es anfing, dunkel zu werden, und das war eine
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