Das Mädchen.
den ersten Klumpen breiter, eingerollter grüner Farnwedel entfernt, als sie stehenblieb. Sie bemerkte kaum, daß ihre Füße in den schlammigen Boden unter Wasser einsanken. Der Bewuchs auf diesem Ufer der kleinen Insel war entwurzelt und zerfetzt; hier und dort trieben noch vollgesogene Büschel Jungfarne in dem schwarzen Wasser. Etwas weiter oben waren im Grün der Pflanzen hellrote Flecken zu erkennen.
»Das gefällt mir nicht«, murmelte Trisha, und als sie dann weiterwatete, ging sie nach links statt geradeaus. Jungfarne waren gut, aber dort oben schien ein verendetes oder schwer verletztes Tier zu liegen. Vielleicht kämpften die Biber in der Paarungszeit um Weibchen oder irgendwas. Sie war noch nicht hungrig genug, um zu riskieren, einem verletzten Biber zu begegnen, während sie sich ein frühes Abendessen zusammensuchte. Dabei konnte man allzu leicht eine Hand oder ein Auge verlieren.
Auf halbem Weg um die Jungfarninsel machte Trisha nochmals halt. Sie wollte nicht hinsehen, aber wegsehen konnte sie schon gar nicht. »He, Tom«, sagte sie mit hoher zittriger Stimme. »Oh, he, schlimm.« Was sie vor sich sah, war der abgetrennte Kopf eines kleinen Weißwedelhirschs. Er war die Inselböschung hinuntergerollt und hatte eine Spur aus Blut und zerdrückten Jungfarnwedeln hinterlassen. Jetzt lag er mit nach oben gekehrter Unterseite fast im Wasser. Seine Augen schimmerten von Nissen. Regimenter von Fliegen hatten sich auf dem zerfetzten Stumpf seines Halses niedergelassen. Sie summten wie ein kleiner Elektromotor.
»Ich sehe seine Zunge«, sagte sie, und ihre Stimme schien aus weiter Ferne, aus einem hallenden langen Flur zu kommen. Die goldene Sonnenbahn auf dem Wasser war ihr plötzlich viel zu hell, und sie merkte, daß sie, einer Ohnmacht nahe, zu schwanken begann.
»Nein«, flüsterte Trisha. »Nein, laß mich nicht, ich darf nicht.«
Diesmal klang ihre Stimme zwar leiser, aber dafür näher und weniger abgehoben. Das Sonnenlicht erschien ihr wieder fast normal. Gott sei Dank - sie wollte auf keinen Fall bewußtlos werden, während sie fast hüfttief in brackigem, schlammigem Wasser stand. Keine Jungfarnwedel, aber auch keine Ohnmacht. Das glich sich fast aus. Sie setzte sich wieder in Bewegung, watete jetzt schneller und achtete weniger sorgfältig auf guten Stand, bevor sie ihr Gewicht verlagerte. Sie bewegte sich mit den übertrieben eckigen Bewegungen eines Gehers: mit rotierenden Hüften und knappen Armschwüngen vor dem Oberkörper. In einem Lycrabody hätte sie vermutlich wie der Gast des Tages in der Sendung Workout mit Wendy ausgesehen. Also, Leute, diesmal wollen wir eine ganze neue Übung versuchen. Ich nenne sie »Auf der Flucht vor dem abgerissenen Hirschkopf«. Rollt eure Hüften, spannt euer Gesäß an, schwingt eure Schultern!
Sie starrte angestrengt geradeaus, aber es war unmöglich, das schwere, irgendwie selbstzufriedene Summen der Fliegen zu überhören. Wer hatte das getan? Kein Biber, das stand fest. Kein Biber riß jemals einem Hirsch den Kopf ab, so scharf seine Zähne auch sein mochten. Du weißt, wer das gewesen ist, erklärte ihr die kalte Stimme. Es ist das Ding gewesen. Das spezielle Ding. Das Ding, das dich in diesem Augenblick beobachtet. »Nichts beobachtet mich, das ist blöder Scheiß«, keuchte sie. Dann riskierte sie einen Blick über ihre Schulter und war froh, als sie sah, daß sie sich von der Jungfarninsel entfernte. Aber nicht schnell genug. Sie erhaschte einen letzten Blick auf den fast im Wasser liegenden Tierkopf: ein braunes Ding, das ein summendes schwarzes Halsband trug. »Das ist blöder Scheiß, nicht wahr, Tom?« Aber Tom gab keine Antwort. Tom konnte keine Antwort geben. Tom war um diese Zeit vermutlich in Fenway Park, riß mit seinen Mannschaftskameraden Witze und zog seine leuchtendweiße Heimspielkleidung an. Der Tom Gordon, der hier mit ihr durch die Sümpfe watete - durch diese endlosen Sümpfe -, war lediglich ein homöopathisches Mittelchen gegen Einsamkeit. Sie war auf sich allein gestellt.
Bloß bist du's nicht, Schätzchen. Du bist keineswegs allein. Trisha hatte schreckliche Angst, es sei die Wahrheit, was die kalte Stimme sagte, auch wenn sie nicht ihr Freund war. Dieses Gefühl, beobachtet zu werden, war zurückgekehrt -und stärker als je zuvor. Sie versuchte, es mit Nervosität wegzuerklären (der Anblick des abgerissenen Kopfs hätte jeden nervös gemacht), und das war ihr schon fast gelungen, als sie zu einem Baum kam, dessen
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