Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Mädchen.

Das Mädchen.

Titel: Das Mädchen. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
Vom Netzwerk:
dem NO. CONWAY 5.2 stand. An dem anderen Pfad, der schmaler und größtenteils mit Gras bewachsen war, stand KEZAR NOTCH 10. »Jungs, ich muß pinkeln«, sagte das unsichtbare Mädchen, und natürlich achtete keiner der beiden darauf; sie marschierten einfach auf dem linken Pfad weiter, der nach North Conway führte, gingen wie Liebende nebeneinander her, sahen sich wie Liebende ins Gesicht und stritten sich wie die erbittertsten Feinde. Wir hätten zu Hause bleiben sollen, dachte Trisha. Das hätten sie auch zu Hause tun können, und ich hätte ein Buch lesen können. Vielleicht noch mal Der kleine Hobbit - eine Geschichte über Leute, die gern in Wäldern unterwegs sind. »Mir egal, ich gehe pinkeln«, sagte sie mürrisch und folgte ein Stück weit dem mit KEZAR NOTCH bezeichneten Pfad. Hier drängten die Kiefern, die vom Hauptweg bescheiden Abstand gehalten hatten, dichter an den Weg heran und griffen mit ihren blauschwarzen Ästen aus, und es gab auch Unterholz - Dickichte und Aberdickichte. Sie achtete auf das glänzende Laub, das Giftefeu, Gifteiche oder Giftsumach bedeutete, und sah nichts dergleichen ... Gott sei Dank für diese kleine Gefälligkeit. Vor zwei Jahren, als das Leben noch glücklicher und einfacher gewesen war, hatte ihre Mutter ihr Bilder dieser Pflanzen gezeigt und ihr erklärt, woran sie zu erkennen waren. Damals hatte Trisha ihre Mutter ziemlich häufig auf Waldwanderungen begleitet. (Petes bitterste Klage wegen ihres Ausflugs ins Plant-A-Torium hatte gelautet, ihre Mutter habe dorthin gewollt. Daß das offenbar stimmte, schien ihn unempfindlich dafür zu machen, wie egoistisch sein ewiges Gemeckere geklungen hatte.)
    Auf einer dieser Wanderungen hatte Mom ihr auch gezeigt, wie Mädchen im Wald pinkeln. Sie hatte einleitend gesagt: »Das Wichtigste - vielleicht das einzig Wichtige - dabei ist, daß man's nicht da macht, wo Giftefeu wächst. Paß auf. Sieh mir zu, und mach's genau wie ich.« Jetzt blickte Trisha in beide Richtungen, sah niemanden und  beschloß trotzdem, den Wanderweg zu verlassen. Obwohl der Pfad nach Kezar Notch kaum begangen zu sein schien -wenig mehr als eine Gasse im Vergleich zur breiten Durchgangsstraße des Hauptwegs -, wollte sie sich nicht einfach mitten darauf hinhocken. Das kam ihr unschicklich vor. Sie verließ den Pfad in Richtung der Abzweigung nach North Conway und konnte noch immer die Stimmen der Streitenden hören. Später, nachdem sie sich gründlich verlaufen hatte und den Gedanken noch nicht zuließ, sie könne in diesen Wäldern sterben, würde Trisha sich an den letzten Satz erinnern, den sie deutlich gehört hatte, an die gekränkte, empörte Stimme ihres Bruders: ... weiß nicht, warum wir ausbaden müssen, was ihr beiden falsch gemacht habt! Sie ging ein halbes Dutzend Schritte in die Richtung, aus der seine Stimme kam, und machte vorsichtig einen Bogen um ein Dornengestrüpp, obwohl sie keine Shorts, sondern Jeans trug. Dann blieb sie stehen, sah sich um und merkte, daß sie den Pfad nach Kezar Notch noch immer sehen konnte ... was bedeutete, daß jeder, der dort entlangkam, sie würde sehen können, wie sie mit einem halbvollen Rucksack auf dem Rücken und einer Red-Sox-Mütze auf dem Kopf dahockte und pinkelte. Arschpeinlich, wie Pepsi vielleicht gesagt hätte (Quilla Andersen hatte einmal bemerkt, Penelope Robichaud sollte im Lexikon neben dem Wort vulgär abgebildet sein).
    Trisha ging einen Hang hinunter, wobei sie mit ihren Turnschuhen auf dem Laubteppich aus dem vergangenen Herbst ein paarmal leicht ausrutschte, und als sie unten ankam, war der Pfad nach Kezar Notch nicht mehr zu sehen. Gut. Aus der anderen Richtung, geradeaus durch den Wald, hörte sie die Stimme eines Mannes und das darauf antwor tende Lachen einer Frau - Wanderer auf dem Hauptweg, dem Klang nach nicht allzu weit entfernt. Während Trisha den Reißverschluß ihrer Jeans aufzog, fiel ihr ein, daß ihre Mutter und ihr Bruder sich vielleicht Sorgen um sie machen würden, falls sie ihren ach so interessanten Streit für eine Sekunde unterbrachen - und sich umdrehten, um zu sehen, was Schwesterchen machte, und statt Trisha ein fremdes Paar hinter sich sähen.
    Gut! Dann können sie ein paar Minuten lang an etwas anderes denken. An etwas anderes als sich selbst. Die Schwierigkeit, hatte ihre Mutter ihr an jenem besseren Tag vor zwei Jahren im Wald erklärt, bestand nicht darin, im Freien pinkeln zu gehen - das konnten Mädchen genausogut wie Jungs -, sondern es zu tun, ohne

Weitere Kostenlose Bücher