Das Mädchen.
Dad zum Geburtstag ein handgefertigtes Puzzle zu bestellen bei dieser Firma in Vermont, die das anbot (oder falls das zu teuer war, würden sie sich mit einem Rasentrimmer begnü gen), als sie plötzlich stehenblieb. Keine Bewegung mehr machte. Kein Wort mehr sagte.
Sie studierte den Bach fast eine Minute lang, während ihre Mundwinkel herabhingen und eine Hand automatisch die um ihren Kopf schwirrenden Insekten wegwedelte. Das Unterholz kam jetzt unter den Bäumen zurückgekrochen; die Bäume selbst waren kümmerlicher, ließen mehr Licht durch. Überall zirpten Grillen.
»Nein«, sagte Trisha. »Nein, mm-mm. Ausgeschlossen. Nicht wieder.«
Die ungewohnte Stille des Bachs war es gewesen, die sie von ihrem faszinierenden Gespräch mit Tom Gordon abgelenkt hatte (Leute, die man sich nur vorstellte, waren so gute Zuhörer). Der Bach plätscherte und rauschte nicht mehr. Das kam daher, daß seine Strömungsgeschwindigkeit nachgelassen hatte. In seinem Bett wuchsen mehr Wasserpflanzen als zuvor oberhalb des Tals. Und er wurde breiter. »Wenn er wieder in einem Sumpf endet, bringe ich mich um, Tom.«
Eine Stunde später bahnte Trisha sich müde ihren Weg durch ein Dickicht aus verkrüppelten Pappeln und Birken, hob ihre Hand, um mit dem Handballen eine besonders lästige Mücke zu zerquetschen, und ließ sie dann einfach an der Stirn liegen: die Geste jedes Menschen in der Geschichte der Menschheit, der erschöpft ist und nicht weiß, was er tun und wohin er sich wenden soll. Irgendwann war der Bach über seine niedrigen Ufer getreten und hatte eine weite freie Fläche überflutet, so daß ein flaches Hochmoor mit Schilf und Rohrkolben entstanden war. Auf dem stehenden Wasser zwischen der Vegetation glitzerte die Sonne in heißen kleinen Lichtblitzen. Grillen zirpten; Frösche quakten; hoch am Himmel segelten zwei Habichte, ohne einen Flügelschlag; irgendwo lachte eine Krähe. Das Moor sah nicht so häßlich aus wie der Sumpf mit den Schilfinseln und den ins Wasser gestürzten Bäumen, durch den sie gewatet war, aber es erstreckte sich mindestens eine Meile weit (und womöglich zwei), bevor es in einen niedrigen, mit Fichten bewachsenen Hügelrücken überging.
Und der Bach war natürlich verschwunden. Trisha setzte sich auf die Erde, wollte etwas zu Tom Gordon sagen und merkte dann, wie dämlich es war, sich jemanden vorzustellen, wenn klar war - und mit jeder verstreichenden Stunde klarer wurde -, daß sie hier sterben würde. Es war unwichtig, wie viele Meilen sie zurücklegte oder wie viele Fische sie zu fangen und hinunterzuwürgen schaffte. Trisha begann zu weinen. Sie verbarg ihr Gesicht in den Händen und schluchzte lauter und lauter. »Ich will zu meiner Mutterl« schrie sie den gleichgültigen Tag an. Die Habichte waren weitergesegelt, aber von dem bewaldeten Hügelrücken herüber erklang wieder das Lachen der Krähe. »Ich will zu meiner Mutter, ich will zu meinem Bruder, ich will zu meiner Puppe, ich will nach Hausei« Die Frösche quakten nur. Das erinnerte sie an eine Geschichte, die Dad ihr vorgelesen hatte, als sie klein gewesen war - ein Auto steckte im Schlamm fest, und alle Frösche quakten: Zu tief, zu tief. Es hatte sie unglaublich geängstigt. Sie weinte noch heftiger, und irgendwann machten ihre Tränen - all diese Tränen, all diese gottverdammten Tränen - sie wütend. Sie hob ihren Kopf, den weiter unzählige Insekten umschwirrten, während die verhaßten Tränen ihr weiter über ihr schmutziges Gesicht liefen.
»Ich will zu meiner MUTTER! Ich will zu meinem BRUDER! Ich will hier raus, HABT IHR VERSTANDEN?« Trisha strampelte mit den Beinen, strampelte so heftig, daß einer ihrer Turnschuhe wegflog. Sie war sich bewußt, daß sie einen regelrechten Wutanfall hatte, den ersten seit ihrem fünften oder sechsten Lebensjahr, aber das war ihr egal. Sie warf sich auf den Rücken, trommelte mit ihren Fäusten auf die Erde und öffnete sie dann, um Grasbüschel ausreißen und in die Luft werfen zu können. »VERDAMMT, ICH WILL HIER RAUS! Warum findet ihr mich nicht, ihr dämlichen, beschissenen Arschlöcher? Warum findet ihr mich nicht? ICH ... WILL ... NACH ... HAUSE!«
Sie lag keuchend im Gras und sah zum Himmel auf. Ihr Magen schmerzte, und ihre Kehle war vom Schreien heiser, aber sie fühlte sich ein wenig besser, als habe ihr Körper sich von irgend etwas Gefährlichem befreit. Sie legte einen Arm über ihr Gesicht und döste noch immer schniefend ein. Als Trisha aufwachte, stand die Sonne
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