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Das Mädchen.

Das Mädchen.

Titel: Das Mädchen. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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glänzte die Welt draußen in reinstem Weiß ... dann waren unten für kurze Zeit der Erdboden oder das schiefergraue Wasser des Bostoner Hafens zu sehen ... erneut eine weiße Wolkenschicht... dann wieder ein flüchtiger Blick auf Wasser oder den Erdboden.
    Die vier Tage nach ihrem Entschluß, nach Norden abzudrehen, verliefen wie dieser Sinkflug: überwiegend in Wolkenbänken. Einigen Erinnerungen, die sie hatte, traute sie nicht. Am Dienstag abend hatte die Trennlinie zwischen Wirklichkeit und Erfindung zu verschwimmen begonnen.
    Am Samstag morgen, nach einer vollen Woche in den Wäldern, war sie praktisch ganz verschwunden. Am Samstag morgen (nicht daß Trisha ihn als Samstag erkannte, als er heraufdämmerte; den Überblick über die Wochentage hatte sie längst verloren) war Tom Gordon zu ihrem ständigen Begleiter geworden - keine Phantasiegestalt mehr, sondern als wirklich akzeptiert. Auch Pepsi Robichaud begleitete sie einige Zeit lang; die beiden sangen alle ihre liebsten Duette der Boyz und Spiee Girls, und danach ging Pepsi hinter einen Baum und kam auf der anderen Seite nicht wieder hervor. Trisha suchte hinter dem Baum, konnte Pepsi nirgends finden und begriff nach einigen Augenblicken stirnrunzelnden Nachdenkens, daß sie nie dagewesen war. Darauf setzte Trisha sich hin und weinte. Während sie eine weite, mit Felsblöcken übersäte Lichtung überquerte, kam ein großer schwarzer Hubschrauber - der Typ Hubschrauber, den die finsteren Verschwörertypen von der Regierung in Akte X benutzten - und schwebte über Trishas Kopf. Bis auf ein schwaches Pulsieren seiner Rotoren schwebte er geräuschlos. Sie winkte ihm zu und schrie um Hilfe, aber obwohl die Besatzung der Maschine sie gesehen haben mußte, flog der schwarze Hubschrauber weg und kam nie wieder. 
    Sie erreichte einen alten Kiefernwald, durch den das Tageslicht in gedämpft staubigen Streifen wie Sonnenstrahlen durch die hohen Fenster einer Kathedrale fiel. Das konnte am Donnerstag gewesen sein. An diesen Bäumen hingen die verstümmelten Kadaver von Tausenden von Hirschen - ein hingeschlachtetes Heer von Tieren, die von Fliegen wimmelten und von Maden aufgebläht waren. Trisha schloß die Augen, und als sie sie wieder öffnete, waren die verwesenden Kadaver verschwunden. Sie fand einen Bach und folgte ihm einige Zeit lang, bevor er versiegte oder sie ihn aus den Augen verlor. Bevor das geschah, blickte siejedoch hinein und sah auf seinem Boden ein riesiges Gesicht, das ertrunken, aber irgendwie doch noch am Leben war, zu sich aufsehen und lautlos reden. Sie kam an einem großen grauen Baum vorbei, der wie eine verkrüppelte hohle Hand aussah; aus seinem Inneren sprach eine Totenstimme ihren Namen. Eines Nachts wachte sie davon auf, daß etwas schwer auf ihre Brust drückte, und glaubte schon, das Ding aus den Wäldern wolle sie jetzt holen, aber als sie danach griff, war nichts da, und sie konnte wieder atmen. Sie hörte mehrmals Leute, die sie riefen, aber wenn sie ihrerseits rief, kam nie eine Antwort. Zwischen diesen Wolken aus Illusionen blitzten lebhafte reale Sinneseindrücke auf, als habe sie zwischendurch kurz wieder Bodensicht. Sie erinnerte sich daran, wie sie einen weiteren Beerenschlag entdeckt hatte, einen riesigen, der sich über eine ganze Hügelflanke zog, und ihren Rucksack mit Scheinbeeren gefüllt hatte, während sie sang: »Wen rufen Sie an, wenn Ihre Windschutzscheibe kaputt ist?« 
    Sie erinnerte sich daran, wie sie ihre Wasserflasche und die Surgeflasche aus einer Quelle gefüllt hatte. Sie erinnerte sich daran, wie sie über eine Wurzel gestolpert und in eine feuchte kleine Bodensenke gefallen war, in der die schönsten Blumen wuchsen, die sie je gesehen hatte: wachsweiß und duftend, von zierlicher Eleganz. Sie erinnerte sich deutlich daran, wie sie auf einen Fuchskadaver ohne Kopf gestoßen war; anders als das an Bäumen hängende Heer von hingeschlachteten Hirschen verschwand dieser Kadaver nicht, als sie die Augen schloß und langsam bis zwanzig zählte. Sie glaubte, bestimmt erlebt zu haben, wie eine Krähe kopfüber an einem Ast hing und sie ankrächzte, und obwohl das wahrscheinlich nicht möglich war, besaß diese Erinnerung eine Qualität, die viele andere (zum Beispiel die mit dem schwarzen Hubschrauber) nicht besaßen: Struktur und Klarheit. Sie erinnerte sich, wie sie mit ihrer Kapuze in dem Bach gefischt hatte, in dem sie später das lange ertrunkene Gesicht sah. Es gab keine Forellen, aber es gelang ihr, ein

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