Das Maedchengrab
ich ein Schwein gesehen, das der Metzger mit offenem Bauch auf eine Leiter gelegt hat. Da stelle ich mir vor, dass es im Inneren eines Menschen ganz ähnlich aussieht.«
»Natürlich«, Gerd nickte ernst und griff wieder zum Löffel. Er schien erleichtert, so unbefangen mit Fine reden zu können.
»Jetzt verstehe ich, wie es abgelaufen ist«, meinte Fine voller Eifer. »Die Ärzte haben bei der Untersuchung herausgefunden, dass Lisbeth schon mit einem Mann zusammen gewesen war. Aber sie konnten auch feststellen, dass sie nicht schwanger war.«
»Ja, Fine«, entgegnete Gudrun sanft. »Genau so.«
»Und wer war der Mann?«, fragte Fine aufgeregt. »Weiß die Polizei das inzwischen? Ulla hat erzählt, damals ging das Gerücht, dass es Hannes gewesen sein könnte. Marjanns Sohn.«
Gerd schüttelte den Kopf. »Das ist längst nicht sicher. Wie Ulla schon richtig meint: Das war ein Gerücht. Und bei Gerüchten müssen wir immer vorsichtig sein, damit wir niemandem Unrecht tun.«
»Weil Hannes schon nicht mehr hier wohnte, als Lisbeth umkam?«
»Richtig. Nach allem, was wir wissen, hatte er das Dorf ein paar Tage vorher verlassen.«
»Warum glauben die Leute dann trotzdem, dass er es gewesen sein könnte?«
»Wir wissen eben nichts Genaues«, erwiderte Gerd geduldig.
»Und solange wir keine klaren Angaben dazu machen können, halten sich eben die Gerüchte. Die Leute suchen sich dann ihre Erklärung selbst. Was aber noch lange nicht bedeutet, dass sie damit richtig liegen.« Er zögerte kurz, rückte seinen Stuhl ein Stück vom Tisch ab und meinte dann: »Wo du nun schon hier bist, Fine, möchten wir dich auch etwas fragen: Was weißt denn du über Hannes? Immerhin lebst du im Haus seiner Mutter, und die spricht ja wohl oft über ihn, oder?«
»Das tut sie«, bestätigte Fine. Und ich kenne alle Briefe von Hannes in Amerika. Darin schreibt er, wie er dort lebt und vor allem von seiner Arbeit im Hafen von Portland.«
Gerd nickte. »Das ist das, was Marjann damals auch auf der Polizeiwache zu Protokoll gegeben hat.«
Er schwieg einen Moment, und Fine hätte gern weiter gefragt, aber so verschlossen, wie seine Miene war, wagte sie das nicht.
»Wir wissen letztlich nichts und müssen weiter forschen«, meinte er schließlich. »Darum bitte ich dich inständig, Fine, schließe dich nicht den Gerüchten an und sprich nicht weiter darüber. Und vor allem: Sorge dich nicht. Das alles ist lange her, und seitdem ist zum Glück nichts mehr dergleichen passiert.«
Fine bedankte sich für das Vertrauen und versprach, über alles, was sie heute erfahren hatte, zu schweigen.
Nachdem die Suppe aufgegessen war, reichte Gudrun noch eine köstliche Nachspeise aus Dickmilch und roten Johannisbeeren in Honig. Die drei sprachen nun nicht mehr über die gewaltvolle Tat, sondern sie tauschten sich aus über die eine oder andere heitere Begebenheit von den Leuten im Dorf. Vor allem aber schilderte Gudrun das Brautkleid, das sie sich bis zum nächsten Frühjahr nähen wollte. Sie sparte schon fleißig für einen schwarzen Seidenstoff und einen Schleier aus echter Brüsseler Spitze.
»Aber wenn wir das Geld stattdessen dafür brauchen, den Doktor aus Blankenheim zu bezahlen, damit der meinem Vater hilft, dann trage ich eben das Brautkleid meiner älteren Schwester.« Gudruns Augen füllten sich mit Tränen.
Da rückte Gerd seinen Stuhl nah heran und legte den Arm um sie. »Ob du nun einen Spitzenschleier trägst oder nicht: Für mich wirst du die allerschönste Braut sein, und ich werde ein Leben lang mit dir glücklich werden.« Er küsste sie auf die Wange.
Fine strahlte mit dem jungen Paar. Sie dankte noch einmal für das Mahl und machte sich auf, zurück ins Haus der Schwarzen Marjann.
Als sie eintrat, hatte die alte Frau sich schon in ihre Kammer zurückgezogen. Sie wünschten einander eine Gute Nacht, dann ging Fine durch den Garten zu ihrem Schuppen.
Rasch schlummerte sie ein und verbrachte eine ruhige Nacht. Kein böser Traum über das Mädchen Lisbeth oder den Mörder verfolgte sie.
Am nächsten Tag versah sie ihren Gänsedienst mit frischem Mut. Wie immer kam Gerd morgens und abends an den Hollerwiesen vorbei. Sie winkten einander zu – ganz so, wie sie es sich angewöhnt hatten. Nichts erinnerte mehr an die ernste Unterredung, die sie noch am Vorabend geführt hatten.
Die Begegnung
Noch oft dachte Fine an den Abend bei Gudrun und Gerd. Sie hielt ihr Versprechen und erzählte niemandem davon, auch nicht Basti oder
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