Das Maedchengrab
die Wange. »Dorthin gehe ich nicht allein, Tante. Wenn es soweit ist, nehme ich Euch mit.«
»Ach, Kind«, gerührt tätschelte die alte Frau Fines Hand. »Ich denke oft, wie schön es wäre, wenn wir alle zusammen sein könnten: du, mein Hannes und ich. Ihr beide würdet euch gewiss gut verstehen. Und was für ein prächtiges Paar ihr wäret.«
Fine stutzte, von Marjanns Ansinnen fühlte sie sich unangenehm berührt. Seitdem sie in Hannes’ ehemaliger Kammer wohnte, kam es ihr vor, als gäbe es eine geheime Verbindungen zwischen ihnen beiden, die ihr Unbehagen bereitete. »Aber Hannes ist doch längst erwachsen«, wandte sie ein. »Und ich bin fast noch ein Kind.«
»Was macht das schon?«, erwiderte Marjann leichthin. »Er ist zwölf Jahre älter du, das ist ein guter Abstand zwischen Mann und Frau. Mein Bert war neun Jahre älter als ich, und wir haben einander sehr geliebt. Ob nun neun oder zwölf Jahre – das ist fast das gleiche, Fine. Lass noch drei Winter vergehen, dann ist es schon so weit: Du feierst deinen sechzehnten Geburtstag. Wenn dein Vormund zustimmt, darfst du von diesem Zeitpunkt an heiraten. Bis dahin ist mein Hannes vielleicht schon zurück aus Amerika.« Und ehe Fine etwas einwenden konnte, setzte Marjann nach: »Wie schön ihr beide auch in euren Namen zueinander passt: Josefine und Johannes. Das klingt doch so, als wäret ihr für einander bestimmt.«
Weil der alten Frau bei diesen Worten die Tränen in die Augen schossen, wollte Fine nicht mehr widersprechen. Sie nickte nur und wünschte eine Gute Nacht. Bevor sie einschlief, dachte sie daran, dass den Gerüchten nach auch Hannes verdächtig war, ein Mörder zu sein. Den wollte sie gewiss nicht freien, beschloss Fine und befahl sich, auf ewig darüber zu schweigen.
Es kamen helle Erntetage, an denen der Himmel so wolkenlos blau war, dass Fine oft den ganzen Tag den Mond wie ein fein gezirkeltes Wölkchen am Himmel erkennen konnte. Am Maulbeerstrauch, dessen Blüten den Sommer über so herrlich geduftet hatten, bildeten sich kleine, birnenförmige Früchte. Auch die giftige Einbeere reifte und begann, schwarz zu werden.
Je näher die Tage des Getreideschnitts rückten, umso betriebsamer wurde es im Dorf und auf den umliegenden Feldern. Auch Fine bei ihrem Gänsedienst bekam das zu spüren. Auf dem Weg, der an den Hollerwiesen vorbeiführte, entstand ein reges Treiben. Schnell rasselnd zogen morgens die Leiterwagen dahin. Darauf saßen Frauen und Kinder, sie lachten, wenn das Schütteln des Wagens sie auf und nieder hob. Abends dann fuhren die mit Garben beladenen Wagen krächzend heimwärts. Schnitter und Schnitterinnen gingen müde vom Tagwerk nebenher.
Obwohl der Herbst sich näherte, wurde es wieder wärmer. Die Sonne schien unermüdlich, und ausgerechnet an den wichtigsten Tagen der Ernte war es in diesem Jahr so heiß, wie es den ganzen Sommer über nicht gewesen war. Die Gänse litten an dem Wetter. Mehrfach täglich musste Fine die Schwengelpumpe betätigen, um den ausgehöhlten Baumstamm nachzufüllen, der den Tieren als Tränke und Bad diente. Dieser Brunnen auf den Hollerwiesen hatte das beste Wasser in der Gegend. Je wärmer es wurde, umso öfter geschah es, dass die vorbeikommenden Menschen den Feldweg verließen, um der jungen Gänsehirtin einen kurzen Besuch abzustatten. Dann pumpte Fine frisches Wasser für die erschöpften Frauen und Männer. Einige hatten Eimer dabei, die sie füllten und damit erst sich und dann ihr Zugvieh tränkten. Andere hielten ihre hohlen Hände in den Wasserstrahl und labten sich am kühlen Nass.
Fine kam der Gedanke, den Menschen das Trinken zu erleichtern. Sie bat Marjann um einen kleinen, irdenen Krug, nahm ihn mit zum Brunnen und überreichte ihn frisch gefüllt den dürstenden Feldarbeitern. Für diesen Einfall erntete sie viel Lob, bei Rückgabe des Kruges ruhte manch dankbarer Blick auf ihr. Die Anerkennung tat ihr so wohl, dass sie bald fast enttäuscht war, wenn Leute vorübergingen, ohne zu trinken. Aber das kam nur selten vor, denn es blieb heiß, und fast jeder der Entlangziehenden ließ sich einen Krug reichen.
Eines Tages kam ein Wagen mit zwei prachtvollen Schimmeln dahergefahren. Ein breiter Bauer nahm den Doppelsitz völlig ein, er kam ohne Begleitung. Fine stutzte. Sobald sie den Mann erblickte, ergriff eine seltsame Aufregung ihr Gemüt, und sie wusste nicht, weshalb. Sie glaubte, ihn schon einmal gesehen zu haben. Eine dumpfe Erinnerung wurde in ihr wach, aber sie hätte
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