Das Maedchengrab
Sieben-Uhr-Läuten der Kirche nach Reetz zurück.
Heute Abend werde ich auf ihn zugehen, nahm Fine sich fest vor.
Und wie es so ist an Tagen, deren Ende man heiß erwartet, wurden für sie die kommenden Stunden schwer und zäh. Immer wieder schaute sie zum Feldweg. Mit jedem Schlagen der Kirchturmuhr zählte sie, wie viele Viertelstunden es noch waren bis sieben Uhr. Dann endlich. Sobald das Abendläuten eingesetzt hatte, trieb sie hektisch die Herde zusammen, setzte dabei die Gerte heftiger ein als sonst und drängte die Gänse in den Pferch. Die Vögel schnatterten aufgeregt, als merkten sie, dass Fine sie heute um eine Stunde der üblichen Weidezeit betrog.
Sobald Fine hinter den Gänsen die Drahttür zugeschlagen und den Riegel umgelegt hatte, eilte sie zu demjenigen Birnbaum, der dem Weg am nächsten stand. Gern wäre sie Gerd auf seinem Weg entgegengegangen, doch wäre ihr das unpassend vorgekommen. Also blieb sie am Baum stehen, hielt ihren Blick zum Feldweg gerichtet und hoffte, nicht allzu lange warten zu müssen. Dabei war es keineswegs selbstverständlich, dass Gerd tatsächlich kommen würde, denn er kehrte nicht jeden Abend aus Blankenheim zurück. Den Grund dafür kannte Fine nicht genau, aber sie nahm stark an, dass er oft auch noch spätabends oder nachts nach Verbrechern suchen musste. Dann konnte er vermutlich nicht mehr den Rückweg nach Reetz antreten, und er übernachtete in der Blankenheimer Polizeiwache.
Doch an diesem Abend hatte Fine Glück. Nur wenige Minuten musste sie warten, dann erblickte sie den jungen Gendarm. Noch bevor er sie sehen und wie immer grüßen konnte, ging sie ihm schnellen Schrittes entgegen und ließ keinen Zweifel daran, dass sie ihn sprechen wollte.
Ein wenig erstaunt blieb er stehen.
»Die allerbesten Glückwünsche zur Verlobung!« Mit aufrichtigem Strahlen reichte sie ihm die Hand. »Und grüße deine Gudrun von ganzem Herzen.«
»Also hat es sich herumgesprochen«, Gerd lächelte über beide Wangen und ließ seine braunen Augen aufblitzen. »Es ist sehr aufmerksam von dir, uns zu gratulieren, Fine. Zumal wir kein großes Aufheben davon machen wollten.«
»Dafür sollte ich wohl Verständnis haben«, entgegnete sie, »wo doch Gudruns Vater so schwer krank ist. Aber ich möchte euch sagen, wie sehr ich mich mit euch freue.«
Noch einmal bedankte Gerd sich für die guten Worte. Er war schon drauf und dran, sich zu verabschieden und weiterzuziehen, da ergriff Fine die Gelegenheit: »Es gibt noch etwas, Gerd, was ich gern ansprechen möchte. Ich will dich auch nicht lange aufhalten, aber ich habe etwas auf dem Herzen, und es hat mit deinem Beruf zu tun.«
»Ach so?« Er sah Fine verwundert an an. »Was ist es denn, Mädchen?«
Wie sie nun so offen aufgefordert wurde zu sprechen, tat Fine erst einen tiefen Seufzer, aber dann brachte sie ihr Anliegen in ruhigen, klaren Sätzen vor.
Gerd hörte zu, nickte ernst und sagte schließlich: »Das ist richtig, Fine. Trotz all unserer Mühen konnten wir bisher die Tat nicht klären. Aber so viel sei gesagt: Auch wenn du selbst ein Mädchen bist, nicht viel jünger als Lisbeth damals war, so brauchst du doch keine Angst zu haben. Als Polizist kann ich dich beruhigen. Es ist kaum wahrscheinlich, dass dir etwas Ähnliches zustößt.«
»Und warum nicht?«, fragte Fine mit Nachdruck. »Sag es mir bitte, damit ich unbesorgt sein kann.«
Gerd warf kurze Blicke in alle Richtungen und vergewisserte sich, dass niemand in der Nähe war, der ihrem Gespräch lauschte. Erst dann sagte er: »Das sind Einzelheiten, die nur die Polizei etwas angehen. Ich darf sie dir nicht nennen.« Er blieb freundlich, doch versah er seine Worte auch mit einer leisen Strenge.
»Aber wenn ihr Gendarmen meint, dass ich mich nicht fürchten solle, dann müsst ihr mir doch auch die Gründe dafür nennen«, erwiderte Fine unbeirrt. »Damit ich wirklich beruhigt sein kann.«
Gerd stutzte, offenbar hatte er mit solcher Hartnäckigkeit nicht gerechnet, und er zögerte mit einer Antwort.
Doch Fine sprach gleich weiter. »Es ist doch wie mit dem Märchen vom Rotkäppchen, das uns der Lehrer vorgelesen hat: Die Mutter hatte das Mädchen zwar vorm bösen Wolf gewarnt, aber nicht erzählt, wie der Wolf eigentlich aussieht. Darum konnte Rotkäppchen den Wolf nicht erkennen, und es ist großes Unheil geschehen. Wenn aber Rotkäppchen den Wolf gleich durchschaut hätte, dann hätte er die Großmutter und das Mädchen nicht verschlingen können.«
Gerd zögerte
Weitere Kostenlose Bücher