Das Maedchengrab
der Schwarzen Marjann.
Ob Fine es wollte oder nicht – die Geschichte von Lisbeth und dem ungesühnten Mord ging ihr nicht aus dem Sinn. Es kostete sie einige Mühe, sich nicht anmerken zu lassen, dass sie während gewöhnlicher Verrichtungen oft mit ihrer Aufmerksamkeit weniger bei der Sache, sondern bei Lisbeth war.
Ihren Hirtendienst versah sie dennoch zuverlässig. Jeden Abend sammelte sie die Federn ein, die die Gänse auf den Hollerwiesen und in ihrem Pferch hinterließen. Diese Federn nahm Marjann gern entgegen. Sie entfernte die harten Enden der Kiele und fertigte daraus die Füllung für zwei neue Deckbetten. Was an Federn und Daunen übrig war, verkaufte sie an Markttagen mit recht gutem Gewinn. Und so taugte Fines Gänse-Amt auch noch zu einem kleinen Kostgeld für ihre Quartiersmutter.
Inzwischen kam Fine der Hütedienst nicht mehr langweilig vor. Im Gegenteil: Sie freute sich darüber, ungestört ihren Gedanken nachhängen zu können. Dann war es so, als würde ihre Seele nicht mehr bei den Gänsen verweilen, sondern frei hinaus schwingen und neue Welten entdecken. Doch bei all der Träumerei blieb Fine nicht verborgen, dass auch das Alltägliche wahre Wunder in sich trug. Wenn sie die Augen schloss, lauschte sie dem Wind in den Bäumen und den Vogelstimmen. Alles, was sie wahrnahm, hallte in ihrem Kopf wider, es betäubte die Sinne und schärfte sie gleichzeitig. Dann öffnete Fine die Augen, und es kam ihr so vor, als würde sie die Natur neu und anders erkennen. Sie betrachtete die Pflanzen am Rand der Wiesen, das heimtückische Bilsenkraut und die erfrischende Walderdbeere: So unterschiedlich sie auch waren, so dicht wuchsen sie doch beieinander.
Und dasselbe galt für Menschen, dachte Fine. Ein Mörder war nicht einfach zu erkennen! Er hatte Lebensgewohnheiten wie andere Menschen auch. Es stand ihm nicht auf der Stirn geschrieben, wie brutal er war. Und kurz nachdem er ein junges Mädchen gemeuchelt hatte, mochte er wie gewohnt zu seiner Familie zurückkehren und seinen Kindern liebevoll das Haar streicheln.
Fine beobachtete die Leute, die an den Hollerwiesen entlangkamen. Viele von ihnen kannte Fine. Sie winkte ihnen zu, und wenn es ihre Zeit zuließ, hielten sie gern ein Schwätzchen mit der jungen Gänsemagd.
Der Sommer schritt voran. Die Wachtel schlug im hohen Roggenfeld, und neben Fine sang den ganzen Tag lang eine Feldlerche bei ihrem Nest auf dem Boden.
Wenn Fine abends vom Gänsehüten nach Hause kam, nutzte sie oft noch die Stunden bis zur Dunkelheit, um Marjann zu helfen. Gar manches war in Haus und Garten zu tun. Die alte Frau und das Mädchen schnitten Kräuter und banden sie zu Sträußen, die sie kopfüber zum Trocknen an den Dachbalken hängten. Eine frühe Apfelsorte wurde in diesem Jahr ungewöhnlich rasch reif. Fine schälte die Früchte, schnitt sie in Scheiben und schob sie zum Dörren auf Gestelle von dünnen Hölzern.
Eines Abends zeigte Marjann dem Mädchen einen neuen Brief von Hannes, den der Postkutscher am Mittag gebracht hatte.
»Stell dir nur vor«, meinte Marjann mit geröteten Wangen. »Er schreibt von Menschen, die am Meeresrand entlangwandern, und das aus reiner Muße – einfach so. Eigentlich arbeiten sie in der Stadt in einem Kontor und sind reiche Kaufleute. Jetzt im Sommer kommen sie mit ihren Familien ans Meer und stellen große Sitzkörbe in den Sand. Den ganzen Tag verbringen sie dort, plaudern und essen feine Kuchen, die sie sich von ihren Mägden an den Strand bringen lassen.«
Auch Fine las, was Hannes geschrieben hatte. Sie konnte nur staunen über das Leben in Amerika. »Ich möchte auch einmal den Ozean sehen!« Begeistert reichte sie Marjann den Brief zurück. »Selbst wenn ich gar keine Zeit hätte, dort müßig im Sand zu sitzen, sondern bei den Fischern arbeiten müsste. So will ich doch eines Tages meine Füße in die Wellen halten und die salzige Luft atmen.«
»Das sollst du wohl, Mädchen.« Lächelnd schob Marjann den Brief wieder in den Umschlag, den sie ihrer Gewohnheit nach sorgfältig mit einem grünen Band umwickelte. Sie seufzte. »Ich habe das Meer nie gesehen, noch nicht einmal die Nordsee in Flandern oder Friesland, obwohl es ja nur ein paar Tagesreisen entfernt ist. Und jetzt bin ich alt, da wird mir eine so weite Fahrt nicht mehr vergönnt sein. Aber du bist noch jung. Sicher wirst du eines Tages am Ozean stehen und hinausblicken auf das weite Wasser.«
Da legte Fine einen Arm um ihre Pflegemutter und küsste sie auf
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