Das Magdalena-Evangelium: Roman
wusste, dass er sich zu seiner Einstellung bekennen musste. Die Männer Jerusalems waren nicht wie die Menschen aus Galiläa oder entlegenerer Gebiete. In der Stadt wollte man etwas geboten bekommen. Sie würden vielleicht einem König folgen, der sie vom Joch Roms befreite, doch dieser König musste sich zuerst seiner Aufgabe als würdig erweisen.
Weithin tönte Isas Stimme, doch verteidigte er nicht die Nazarener, sondern ging in einen Angriff auf die Priester über. »Warum gebt ihr Gottes Gebote preis und haltet euch an eure eigene Überlieferung? Ihr Heuchler!«, hallte seine Stimme von den steinernen Mauern des Tempels wider. »Mein Vetter Johannes nannte euch Schlangen, und er hatte vollkommen recht.« Die Anspielung auf den Täufer war klug, sie sicherte Isa die Unterstützung der konservativen Elemente der Menge. »Johannes war bekannt als Inkarnation Jesajas, und es war Jesaja, der sagte: ›Dieses Volk ehrt mich mit den Lippen, sein Herz aber ist weit weg von mir.‹ Nun sehe ich zwar, dass ihr Pharisäer von außen sauber seid, aber innerlich voller Gier und Falschheit. Hat nicht Gott der Herr, der das Äußere schuf, auch das Innere geschaffen?«
Und nun erhob er die Stimme noch mehr, um sein letztes Argument vorzutragen. »Und dies ist der Unterschied zwischen meinen Nazarenern und jenen Priestern. Wir sorgen für die Reinheit unserer Seele, damit wir Gottes Reich auf dieser Erde wie im Himmel behalten können.«
»Das ist Blasphemie gegen die Gebote des Tempels!«, rief ein Mann in der Menge. Ein Tumult entstand, viele aufgeregte Stimmen redeten durcheinander, manche für, manche gegen den Nazarener.
Lärm und Unruhe der Menge drohten außer Kontrolle zugeraten. Maria, die von einem Aussichtspunkt oberhalb der Tempelmauern zuschaute, dachte zunächst, dies sei nur eine Reaktion auf Isas kühne Worte. Tatsächlich war das der Hauptgrund für die Betroffenheit der Jerusalemer. Doch dann sah Maria, wie einige Jünger der Nazarener sich durch die Menge zu Isa vordrängten; mit sich führten sie eine bunt zusammengewürfelte Gruppe Männer und Frauen, die von den Wunderheilungen gehört hatten. Es waren traurige Gestalten, die ob ihrer Blindheit und Lahmheit nicht mehr wie Menschen behandelt wurden.
Die Geldwechsler und die Händler protestierten, als die Gebrechlichen durch den Tempelkomplex geführt wurden. Die Paschawoche sicherte ihnen den besten Umsatz des Jahres, und nun drohte dieses Gesindel ihnen das Geschäft zu verderben. Als ein Blinder in den Auslagetisch eines Händlers stolperte und die Ware zu Boden riss, flammte die Wut auf. Der Händler ging mit einem Stock auf den Blinden los und beschimpfte den Unglücklichen und die Nazarener. Isa kam dem Blinden zu Hilfe, stellte ihn sanft wieder auf die Beine und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Indem er seinen Jüngern bedeutete, die Gebrechlichen etwas beiseitezuführen, warf er den Tisch des grausamen Händlers um. Er brüllte, um den zunehmenden Lärm der Menge zu übertönen. »In der Schrift steht: ›Gottes Haus soll ein Haus des Gebetes sein.‹ Ihr aber habt eine Räuberhöhle daraus gemacht!«
Die anderen Händler beschimpften Isa, der weiter durch den Tempel zog. Fast wäre das Durcheinander in offenen Aufruhr übergegangen, doch da hielt Isa beide Hände hoch und bat seine Jünger, ihm vor den Eingang des Tempels zu folgen. Hierhin wurden auch die Unglücklichen gebracht, die Gebrechlichen, die Kranken und die Lahmen. Und Isa, beginnend mit dem Blinden, heilte sie alle.
Die Menge um den Tempel schwoll an. Trotz Isas mutiger Worte, oder vielleicht gerade ihretwegen, waren die Männer und Frauen Jerusalems sehr begierig darauf, den Nazarener zusehen, diesen Mann, der ein lebenslanges Gebrechen in wenigen Augenblicken zu heilen vermochte.
Maria auf ihrem Aussichtspunkt hatte Isa aus den Augen verloren. Zudem waren Tamar und Johannes ob der Aufregung ganz kribbelig geworden. Maria entfernte sich von dem Spektakel und machte sich mit ihren Kindern auf den Weg zum Marktplatz.
Als sie durch die kopfsteingepflasterten Gassen schritten, erblickte Maria vor sich die schwarzen Umhänge zweier Pharisäer. Sie war sicher, dass sie Isas Namen erwähnt hatten. Sie zog ihren schlichten Schleier tiefer übers Gesicht und hielt Schritt, zog die Kinder mit. Die Männer redeten ganz offen, allerdings auf Griechisch – wahrscheinlich, weil sie wussten, dass das einfache Volk ihrem Gespräch nicht zu folgen vermochte. Doch Maria, die gebildete
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