Das Magdalena-Evangelium: Roman
sehen konnte. Das ist doch seltsam. Warum, glaubst du, hat der König von Frankreich sich so sehr bemüht, ein Kunstwerk zu bekommen, und es dann vor der Welt versteckt?«
»Das ist nur eines der Mysterien, die offenbar kein Ende finden wollen.« Peter überprüfte die Nummern im Plan des Louvre. »Laut dem hier müsste das Bild gleich …«
»Hier!«, rief Maureen. Peter trat hinter sie, und beide starrten sie das Gemälde eine Minute lang an. Schließlich drehte Maureen sich zu Peter um und brach das Schweigen.
»Ich komme mir so dumm vor. Als hätte ich darauf gewartet, dass das Bild mir etwas sagen würde.« Sie wandte sich wieder dem Gemälde zu. »Versuchst du, mir etwas zu sagen, Schäferin?«
Peter kam ein Gedanke. »Ich kann nicht glauben, dass ich bis jetzt nicht daran gedacht habe.«
»Woran gedacht?«
»Die Vorstellung einer Hirtin. Jesus ist der Gute Hirte. Vielleicht wollte Poussin – oder Sinclair – auf eine Gute Hirt in hinweisen.«
»Ja!«, rief Maureen in ihrer Begeisterung ein wenig zu laut. »Vielleicht wollte Poussin uns Maria Magdalena als die Gute Hirtin zeigen, als Anführerin der Herde. Als Oberhaupt ihrer eigenen Kirche!«
Peter zuckte unwillkürlich zusammen. »Nun, das habe ich eigentlich nicht gesagt …«
»Das musstest du auch nicht. Sieh doch: An dem Grab auf diesem Gemälde ist eine lateinische Inschrift.«
»Et in Arcadia Ego« , zitierte Peter.
»Wie übersetzt man das?«
»Gar nicht. Das ist ein einziges grammatikalisches Chaos.«
»Versuch’s einfach mal, so gut du kannst.«
»Die wörtliche Übersetzung ist schlicht ein unvollständiger Satz, der sich grob mit ›Und in Arkadien ich …‹ übersetzen lässt. Als wäre es das Grab selbst, das hier spricht: ›Auch ich bin in Arkadien.‹ Aber das ergibt keinen wirklichen Sinn, oder?«
Maureen bemühte sich, ihm zuzuhören, doch die Stimme einer Frau rief drängend durch das Museum: »Sandro! Sandro!«
Maureen schaute sich nach der Quelle der Stimme um, bevor sie entschuldigend zu Peter sagte: »Tut mir leid, aber die Frau hat mich abgelenkt.«
Die Stimme rief erneut, diesmal lauter, und das ärgerte Maureen. »Wer ist das?«
Peter schaute sie verwirrt an. »Wer ist was?«
»Die Frau, die da ruft …«
»Sandro! Sandro!«
Maureen sah Peter an, während die Stimme immer lauter wurde. Er hörte sie eindeutig nicht. Maureen drehte sich nach den anderen Touristen um, die in die Gemälde an der Wand versunken waren. Außer ihr schien niemand die drängende Stimme zu bemerken, die durch den ganzen Louvre hallte.
»O Gott. Du hörst sie nicht, stimmt’s? Niemand hört sie außer mir.«
Peter blickte sie hilflos an. »Was soll ich hören?«
»Da ist eine Frauenstimme, die durchs ganze Museum ruft. Sandro! Sandro! Komm.«
Maureen packte Peter am Ärmel und eilte in Richtung der Stimme.
»Wo gehen wir hin?«
»Wir folgen dieser Stimme. Sie kommt aus dieser Richtung.«
Sie liefen durch die Museumskorridore, und Maureen entschuldigte sich jedes Mal über die Schulter hinweg, wann immer sie gegen einen anderen Besucher stießen. Die Stimme hatte sich in ein nachdrückliches Flüstern verwandelt, aber sie führte sie irgendwohin, und Maureen war fest entschlossen, ihr zu folgen. Sie rannten durch den Richelieu-Flügel, ignorierten das verärgerte Funkeln eines Museumswächters, eilten eine Treppe hinunter und liefen dann durch einen weiteren Gang vorbei an Schildern, die verkündeten, dass sie sich nun im Denon-Flügel befanden.
»Sandro … Sandro … Sandro …!«
Die Stimme verstummte unvermittelt, als sie die große Haupttreppe erreichten und an der Statue der Göttin Nike in all ihrer geflügelten Pracht vorbeiliefen. Oben angekommen, bogen sie rechts um die Ecke und sahen sich einem der weniger bekannten Meisterwerke der italienischen Renaissance gegenüber. Peter erkannte es.
»Das ist ein Fresko von Botticelli.«
Beide verstanden sie sofort. » Sandro . Alessandro Botticelli.«
Peter schaute auf das Fresko und dann zu Maureen. »Wow. Wie hast du das gemacht?«
Maureen schauderte. »Ich habe gar nichts gemacht. Ich habe nur zugehört und bin der Stimme gefolgt.«
Sie richteten ihre Aufmerksamkeit auf die fast lebensgroßen Figuren, die dort Seite an Seite standen. Peter übersetzte dieTafel darunter. »Venus stellt einen jungen Mann den Freien Künsten vor. Fresko für die Hochzeit von Lorenzo Tornobuoni und Giovanna Albizzi.«
»Jaja, aber warum steht hinter ›Venus‹ ein Fragezeichen?«,
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