Das Magdalena-Vermächtnis: Roman
Felicity in England ein Internat besuchte, nahm sie die englische Version ihres Namens an und behielt ihn auch dann noch bei, als sie wegen »seltsamen Verhaltens« von mehreren englischen Eliteschulen gewiesen wurde. Das anomale Verhalten des Mädchens war auf Visionen zurückzuführen, die schon in sehr jungen Jahren begonnen hatten. So wurde Felicity wieder nach Rom gebracht und kam in einer Klosterschule unter, wo ihre Fortschritte von der Familie und den Ordensbrüdern überwacht werden konnten. Nachdem feststand, dass Felicity tatsächlich Erscheinungen hatte, verlieh die Bruderschaft ihr den Status einer lebenden Schutzpatronin. Felicity war zur Prophetin geworden, zur Seherin, die zu Boden fiel und ekstatisch zuckte, wenn Visionen Jesu und der heiligen Jungfrau sie überkamen.
In den letzten zwei Jahren hatte Felicity in der ultrakonservativen Bruderschaft eine stetig wachsende Begeisterung entfacht, zumal sich bei dem Mädchen die Wundmale Christi gebildet hatten. Wenn Felicity auf Versammlungen angekündigt war, gab es keinen freien Platz mehr. Heute Abend würde eine solche Versammlung im großen Saal der Bruderschaft stattfinden, und Felicity hatte vor, einen nachhaltigen Eindruck zu hinterlassen.
Bei ihrer Rückkehr nach Italien hatte Padre Girolamo dem Mädchen eine hölzerne Plakette geschenkt, die ihr Kraft geben und den Übergang ins strenge Klosterleben erleichtern sollte. In die Plakette war ein Zitat des Sankt Augustinus über die heilige Felicitas eingraviert: Worte, die die moderne Felicitas auswendig gelernt und als Vorbild für den Glauben in ihr Herz geschlossen hatte. Während der Vorstellung heute Abend wollte sie daran denken:
Wundervoll ist dieser Anblick vor den Augen unseres Glaubens: eine Mutter, die, wider allen menschlichen Gefühls, ihre Kinder ermutigt hat, ihr Erdenleben vor ihr zu beenden. Sie schickte ihre Söhne nicht fort, sie schickte sie zu Gott. Sie erkannte, dass das Leben ihrer Kinder erst begann, nicht endete. Und sie schaute nicht nur zu, sie ermutigtedie Jungen sogar. Ihr Mut trug reichere Frucht als ihr Schoß. Als sie ihre Kinder stark sah, war sie selbst stark, und bei jedem Sieg ihrer Kinder siegte sie selbst.
Für die Familie de Pazzi war Felicitas eine außergewöhnliche Heilige und gemessen an der Schwere ihres Opfers vielleicht die Größte aller Märtyrerinnen. Diesen Glauben an die Rechtschaffenheit der Heiligen teilte die junge Felicity mit flammender Leidenschaft. In seinen mehr als achtzig Jahren im Dienste der Kirche hatte Girolamo de Pazzi niemanden erlebt, der so viel religiöse Inbrunst besaß wie diese junge Frau. Sie konnte ihren Zorn über das Buch, das die Auseinandersetzung mit ihrem Onkel ausgelöst hatte, nicht zügeln. Der Padre flehte sie um Verständnis an.
»Was hätte ich denn tun können, um es aufzuhalten? Ich hatte keinen Einfluss darauf, Felicity.«
Das Buch, der Stein des Anstoßes, lag zwischen ihnen auf dem Schreibpult: Die Zeit kehrt wieder , von Maureen Paschal. Die Legende vom Buch der Liebe.
»Du hättest sie aufhalten können, solange du Gelegenheit dazu hattest.«
Girolamo de Pazzi schüttelte den Kopf. Mit »Du hättest sie aufhalten können« meinte Felicity: »Du hättest sie töten sollen.« Es hatte eine Zeit gegeben, da hätte Girolamo diesen Befehl nur zu gern erteilt. Dann aber hatte er gemerkt, dass es ihm unmöglich war, in der Gegenwart des Buches der Liebe einem Menschen das Leben zu nehmen – und schon gar nicht ihr Leben. Nicht, nachdem sie in das Buch geschaut und verstanden hatte, was es war. Wer sie war.
Was de Pazzi in jener Nacht in der Krypta der Kathedrale von Chartres erlebt hatte, war nicht leicht zu erklären. Er hatte Maureen Paschal in die Krypta gelockt, soviel stimmte, um sie mit dem Buch der Liebe zu konfrontieren, dem größten Schatz für jeden Christen, denn das Buch der Liebe war ein Evangelium ausdes Messias eigener Hand. Dennoch war es Gelehrten und Theologen nicht möglich, es zu lesen, obwohl viele es versucht hatten in den fünfhundert Jahren, in denen das Buch hinter den Mauern des Vatikans verborgen wurde. Denn es war in verschiedenen Sprachen geschrieben und enthielt verschlüsseltes Wissen, zu dem normale Sterbliche und traditionelle Christen schon lange keinen Zugang mehr besaßen. Das Buch war ein mystischer Schatz, und es brauchte einen besonderen Schlüssel, um die Lehren zu enthüllen, die im Text verborgen waren.
Dieser Schlüssel war Maureen Paschal.
Allen
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