Das Magdalena-Vermächtnis: Roman
Gesichter erblicken, die geschockt, verängstigt und traurig wirkten. Das Opfer erkannte sie nicht; sie sah nur die hoch auflodernden Flammen, in deren furchtbarer Umklammerung sich das befand, was einmal ein Mensch gewesen war. Männer und Frauen weinten. Plötzlich fiel Maureen ein besonderer Mann ins Auge. Er war schlicht gekleidet und mochte ein Kaufmann sein, doch in seiner Haltung lag etwas, das ihn von den anderen unterschied. Er war groß und hielt sich aufrecht wie ein Herrscher – ein Herrscher jedoch, den ein schrecklicher Schmerz plagte. Als Maureen sah, wie dem Mann eine Träne über die Wange lief, fühlte sie seine furchtbare Trauer und Schuld angesichts der Tragödie, die sich vor seinen Augenabspielte. Eine hoch aufschießende Flamme lenkte Maureens Aufmerksamkeit auf das Feuer und die Stelle, wo der Pfahl mit dem Verurteilten stand. Doch dort war kein Feuer mehr, sondern ein blendend weißes Licht, das barst und gen Himmel fuhr. Um die Menschen herum schien der Himmel dunkler, fast schwarz zu werden. Das weiße Licht nahm Gestalt an, doch diese verging binnen eines Wimpernschlags vor dem düsteren Himmel.
Und Maureen wurde zu einem Feuer in eine andere Stadt geschleudert, in eine andere Zeit, zu einem anderen Verurteilten.
Hier waren nur zornige Gesichter zu sehen, und es waren nur Männer, die sich um das Richtgerüst drängten. Ihr Jubel war es, den Maureen zu Beginn des Traums gehört hatte. Der wütende Mob warf Gegenstände in die Flammen, die Maureen nicht erkennen konnte, und stieß dabei zornige Rufe aus. Immer wieder skandierten die Männer ein Wort, das Maureen nicht kannte. Einen Augenblick lang vermeinte sie, »Pian Jon« zu verstehen, aber das kam ihr selbst im Traum absurd vor. Auch hier konnte sie den Verurteilten nicht sehen, denn die Flammen dieses Feuers loderten noch höher auf als vorhin. Die Atmosphäre in dieser Stadt war merklich anders. Die Menge verachtete den Verurteilten und freute sich, dass ein Verhasster auf so grauenvolle Weise starb. In dieser Stadt herrschte Umsturzstimmung; jeden Moment konnte das Chaos ausbrechen. Als Maureen spürte, dass die Eindrücke verblassten und ihr Bewusstsein sich bereit machte, sie aus dem Traum zu holen, drang ein letztes klares Bild vom Schauplatz der zweiten Hinrichtung in ihren Traum: Am Rand des Platzes, in sicherer Entfernung und doch nahe genug, dass die grausamen Geschehnisse ihm sein Leben lang Albträume bescheren würden, stand ein kleines Mädchen. Mit großen dunklen Augen starrte sie auf das Feuer und den wütenden Mob. Sie war ein zartgliedriges kleines Ding, nicht älter als fünf oder sechs und schrecklich dünn. Doch trotz seiner zerbrechlichen Erscheinung wirkte das Kind weder schwächlich noch ängstlich. Es war der Ausdruck der Augen des Mädchens, der Maureen noch lange zuschaffen machen sollte, denn es lag keine Angst darin. In diesen Augen spiegelten sich die Flammen und noch etwas, das Maureen nicht genau fassen konnte. Doch eines war sicher: Es gefiel ihm nicht. Ganz und gar nicht.
In den Augen des Kindes stand etwas Schreckliches, das auf den Ausbruch von Wahnsinn hindeutete.
RRRRRRRRRRRRR
Vatikan, Bruderschaft der Heiligen Erscheinungen
Gegenwart
»Du hast zugelassen, dass es passiert!«
Wütend knallte Felicity de Pazzi das Buch vor ihrem Großonkel auf das Schreibpult. Ihre großen dunklen Augen unter den schwarzen Brauen funkelten vor Zorn. Es war ihr egal, dass ihr Großonkel alt, krank und schwach war. Er hatte die Verantwortung gehabt und hatte versagt, kläglich versagt, als sie ihn am meisten brauchten.
»Beruhige dich, Liebes.« Padre Girolamo de Pazzi streckte seiner Großnichte, die er liebte wie eine Tochter, seine zitternde Hand entgegen. Er hatte eine Schlüsselrolle bei der Heranbildung des Mädchens zur mächtigsten Person innerhalb der Bruderschaft gespielt, da er selbst aus Gesundheitsgründen nicht mehr in der Lage war, sich mit dem Tagesgeschäft herumzuplagen. Felicitys Leidenschaft machte sie zu einer gewaltigen Kämpferin für die gute Sache. Und ihr Name war gut gewählt, da von Gott inspiriert. Felicitys Mutter hatte in der Schwangerschaft wiederholt von Felicitas geträumt, der tapferen Heiligen, die ihre sieben Söhne opferte, um die Unerschütterlichkeit ihres Glaubens zu beweisen. Als das Mädchen am zehnten Juli zur Welt kam, dem Gedenktag der Felicitas, stand für die Familie de Pazzi fest, dass das Kind eine Reinkarnation der Heiligen sein musste.
Als
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