Das Magdalena-Vermächtnis: Roman
Mitgliedern der Bruderschaft der Heiligen Erscheinungen war sofort nach Maureens Auftauchen klar gewesen, dass sie eine außergewöhnliche Prophetin war. Die Bruderschaft hatte verfolgt, wie Maureen, allein von Visionen geleitet, das Arques-Evangelium der Maria Magdalena fand – eine Aufgabe, die niemand sonst hätte lösen können. Selbst innerhalb der Bruderschaft, die seit fast acht Jahrhunderten die mächtigsten Seher ausbildete, hatte sich niemand gefunden, der den Schatz aufspüren konnte. Nach der aufsehenerregenden Entdeckung in Frankreich wurde deutlich, dass Maureen Paschal eine ganze besondere Bestimmung hatte. Nun wussten die Brüder, dass sie die »Verheißene« war, der es gelingen musste, die Geheimnisse des Buches der Liebe zu entschlüsseln.
Und dieser Umstand war es, der Felicity nun so sehr in Wut versetzte. Auch sie war einige Male mit dem Buch der Liebe in Berührung gebracht worden. Jedes Mal hatten die Mitglieder der Bruderschaft inbrünstig gebetet, sie möge das Buch erschließen und seinen Inhalt offenlegen. Doch das Buch schwieg, obwohl Felicity die Stigmata besaß, die in Anwesenheit des Buches so stark bluteten, dass sie nach jeder Sitzung ins Krankenhaus gebracht werden musste.
Felicity de Pazzi hatte für alle ihre Visionen bluten müssen. Deshalb wusste sie, dass sie gottgegeben waren. Gott verlangte von den Seinen Schmerz; nur so konnte er ihren Glauben prüfen.Wer behauptete, Visionen zu haben, ohne dafür leiden zu müssen, war ein falscher Prophet.
Und die Wahrheit, die Felicity der Welt verkünden musste, waren schreckliche Prophezeiungen über das Ende der Welt, wenn die Sünder, die nicht bereuen wollten, in ihrem eigenen Blut gekocht wurden. Die heilige Jungfrau sagte sehr genau voraus, welcher Tod die Ungläubigen ereilte und welches Schicksal jener harrte, die nicht gewillt waren, Opfer zu bringen, um Gott ihre Liebe zu beweisen.
Felicity selbst brachte Opfer – große Opfer. Unter ihren Kleidern trug sie wie die Büßer des Mittelalters ein cilicium , ein härenes Hemd, das die Haut aufkratzte. Felicity war dünn und sehr zart, und sie schlang das Folterhemd straff um ihren Körper, sodass es unter ihren Blusen nicht zu sehen war. Außerdem trug sie stets lange Ärmel, damit die Narben der Wunden nicht zu sehen waren, die sie sich selbst beibrachte. Seit sie ein junges Mädchen war, hatte sie sich mit einem Messer Kreuze, Dornen und Nägel in Arme und Beine geschnitten. Sie wusste, dass Schmerz, Leid und vor allem Märtyrertum die größten Geschenke des Gläubigen an Gott waren; deshalb konnte sie es nicht ertragen, dass Maureen Paschal ebenfalls mit der Sehergabe gesegnet war. Diese Frau war eine Anomalie, eine Ketzerin und Gotteslästerin. Sie verdiente die Gabe nicht, die Gott ihr verliehen hatte. Sie missbrauchte sie zur persönlichen Bereicherung, nutzte ihren Glauben schamlos aus, um Profit zu machen. Maureen Paschal war schlimmer als die Hure Babylon, verruchter als Jesebel; sie war die Schlange Lilith, die den Garten Eden zerstören würde.
Maureen Paschals unwürdiges Leben musste beendet werden, sonst kam Felicity nie dazu, ihr Schicksal zu erfüllen. Denn für sie stand fest, dass diese Hure ihr den rechtmäßigen Platz gestohlen hatte. Wenn Gott immer nur einer Prophetin erlaubte, das Buch der Liebe aufzuschließen, musste Maureen Paschal vernichtet werden. Solange diese Lügnerin lebte, war die Rolleder Verheißenen vergeben. Erst wenn sie starb, konnte Felicity den Platz einnehmen, der ihr von Rechts wegen gebührte.
Sie setzte ihre Tirade fort. »Sie war die Einzige, die das Buch der Liebe aufschließen konnte, und genau aus dem Grund hast du sie in die Krypta gebracht. Um ein für alle Mal zu beweisen, dass das Buch nicht ist, was die Ketzer behaupten. Und dann wolltest du … ein Ende mit ihr machen.«
Die Wahrheit verlieh dem alten Mann neue Kraft, und er richtete sich im Stuhl auf. »Aber das Buch ist genau das, was die Ketzer stets behauptet haben! Es ist alles das, was wir befürchtet haben, und noch viel mehr. Deshalb stehen wir vor einem Dilemma.«
»Ein Grund mehr, sie zu töten.«
»Felicity, sie ist Gottes Auserwählte! Ob es uns passt oder nicht, ob wir seine Beweggründe verstehen oder nicht, spielt dabei keine Rolle. Wenn Gott sie auserwählt hat, müssen wir es akzeptieren.«
»Du hast zugleich mit deinem Glauben auch deinen Verstand verloren, Onkel!« Drohend beugte Felicity sich über den Tisch, sodass der alte Mann zurückzuckte.
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