Das Magdalena-Vermächtnis: Roman
»Verstehst du nicht? Gott will mich prüfen. Er wartet darauf, dass ich diese Hochstaplerin, diese Thronräuberin, beseitige. Erst dann bin ich meiner Aufgabe würdig. Es ist eine Ehre, seine Prophetin zu sein und seine Wahrheit zu verkünden, wie sie mir von der Jungfrau eingegeben wird. Eine Wahrheit, die nicht durch eine verderbte Hure übermittelt werden kann! Nur durch meine Keuschheit, durch mein Leiden wird die Wahrheit enthüllt, und wir werden alle Sünder erretten, die zur Reue bereit sind. Die Unbußfertigen aber müssen sterben und in der Hölle brennen!«
Padre Girolamo blickte seine Großnichte hilflos an. Er hatte ihr zu erklären versucht, was in Chartres geschehen war, doch sie hatte nicht einmal zugehört. Die Führer der Bruderschaft hatten genau gewusst, dass Maureen niemals mit einer radikalen Randgruppe der Kirche zusammenarbeiten würde. Deshalb war sie unter einem Vorwand in die Krypta der Kathedrale gelocktworden. Dort wollten sie ihr einen Handel anbieten, sie durch finanzielle Zuwendung und andere Mittel verlocken, die Seiten zu wechseln und für die Bruderschaft zu arbeiten. Sie wollten, dass Maureen widerrief, ihre Nachforschungen einstellte und in Zukunft die Bedeutung der Maria Magdalena verneinen sollte.
Denn Maureen Paschal hatte ihre Entdeckungen einem Millionenpublikum zugänglich gemacht. In ihren Büchern hatte sie behauptet, Magdalena sei nicht nur Jesu Ehefrau gewesen, sondern auch seine erwählte Nachfolgerin und deshalb nach seiner Kreuzigung die Begründerin des Christentums.
Zwar war Maria Magdalena die Apostelin aller Apostel, ihr aber solche von Beweisen untermauerte Macht zuzuschreiben, hieß, die Autorität der Kirche zu untergraben. Maureens Buch stellte alte und wohlbehütete katholische Traditionen infrage, darunter das Verbot für Frauen, Priesterinnen zu werden. Paschals gewagteste Behauptung besagte, dass die heilige Sexualität nicht nur von Jesus und seiner rechtmäßig angetrauten Ehefrau praktiziert worden war, sondern in der Tradition des Hieros gamos einen Eckpfeiler des Christentums bildete. Für eine Institution, die ihren Geistlichen seit tausend Jahren das Zölibat abverlangte, war die Vorstellung von geheiligtem Sex anstößig, wenn nicht sogar blasphemisch.
Die Bruderschaft der Heiligen Erscheinungen wollte einem amerikanischen Emporkömmling – noch dazu einer Frau – keinesfalls gestatten, ihre Traditionen anzugreifen, ohne sich dagegen zu wehren. Nachdem man beschlossen hatte, die Ketzerin zum Widerruf zu zwingen, wurde der Plan ersonnen, Maureen in die Falle zu locken und zu erpressen, damit sie ihre Ansichten änderte. Doch die Brüder wussten, wie unsicher der Erfolg war, und machten sich darauf gefasst, Maureen notfalls töten zu müssen.
Dann aber geschah es, dass Maureen Paschal zum Buch der Liebe geführt wurde, auf dem heiligen Boden der Krypta in der Kathedrale von Chartres, am Tag der Sommersonnenwende. DasBuch öffnete und offenbarte sich und hüllte Padre Girolamo in ein strahlend blaues Licht, umhüllte ihn mit der Aura reinster Liebe, der körperlichen Erfahrung Gottes auf Erden. Girolamo de Pazzi begriff, dass das Buch der Liebe die wahre Botschaft des Herrn enthielt, und dass es eine furchtbare Sünde wäre, jene Frau zu töten, die dieses Buch verstehen konnte.
»Aber warum hast du sie laufen lassen, sodass sie diese Ketzereien schreiben konnte?« Felicity wies verächtlich auf das Buch auf dem Schreibpult. »Das , Onkel, war nicht der Plan. Kein Mann und keine Frau ist in den fünfhundert Jahren des Bestehens unserer Bruderschaft so schwach gewesen wie du in jenem Moment. Und nach all dieser Zeit …« Ihre Stimme wurde laut und schrill vor Enttäuschung und Hass. »Es ist unfassbar! Sieh nur, was sie getan hat! Ihre Blasphemie vergiftet die ganze Welt – und dich dazu.«
Es war ein harter Schlag gewesen. Nach der Begegnung mit Maureen Paschal und dem Buch der Liebe hatte Padre Girolamo de Pazzi die Krypta auf einer Krankentrage verlassen müssen. Noch in derselben Nacht erlitt er einen Schlaganfall, von dem er sich seit zwei Jahren mühsam erholte. Er konnte zwar wieder sprechen, war aber schwach und teilweise gelähmt geblieben. Zweifellos war der Schlaganfall eine Strafe Gottes gewesen, eine Warnung, dass Girolamo keine weiteren Angriffe auf Maureens Leben unternehmen dürfe. Er hatte versucht, dies Felicity und den anderen starrsinnigen Mitgliedern der Bruderschaft zu erklären, doch seine Worte trafen auf die tauben
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