Das Magdalena-Vermächtnis: Roman

hatte? Im Zuge ihrer Nachforschungen stellte Maureen fest, dass das Buch der Liebe so brisant war, dass es von seinen Hütern – und von jenen, die es fürchteten – unbedingt geheim gehalten werden musste. Ihre Suche nach dem Buch führte sie in die Epoche der Inquisition und tief in die Geschichte Frankreichs und Italiens. Maureen fand heraus, dass eine Geheimgesellschaft, der Orden vom Heiligen Grab, das Buch der Liebe beschützt hatte. Die Entdeckung dieses geheimen Ordens führte sie weiter zu Mathilde von Canossa, der Markgräfin von Tuszien, die im elften Jahrhundert lebte.
    Mathilde war ein Kind dieses geheimen Erbes. Geboren am Tag des Frühlingsäquinoktiums, verfügte sie über die gleichen prophetischen und visionären Kräfte, die auch Maureen seit ihrer Kindheit besaß. Mathilde war in der häretischen Tradition des Buches der Liebe erzogen worden. Sie war die Hüterin einer Abschrift des Evangeliums, die im ersten Jahrhundert vom Apostel Philippus angefertigt und nach Italien gebracht worden war. Für Mathilde und ihre Nachfolger in der Tradition der Häresie war es das Libro Rosso – das Rote Buch. Es enthielt eine Reihe von Prophezeiungen, die durch Frauen der Blutlinie Jesu weitergegeben wurden; außerdem ihre Biografien und Abstammungslinien. Aufgrund seiner spirituellen Lehre von allumfassender Liebe, seinen Prophezeiungen und seiner Bewahrung der dynastischen Verzweigung der Blutlinie Jesu war das Libro Rosso unbestreitbar das wertvollste Buch der Menschheit. Einst hatte Mathilde es besessen – und benutzt, um die Welt zu verändern.
    Während ihrer Recherchen über Mathilde hatte Maureen zuweilen das Gefühl, mit der anderen Frau zu verschmelzen. Sie fühlte Mathildes Schmerz und Freude; sie lebte während des Schreibens Mathildes Leben in allen seinen Facetten mit. Es war beinahe so, als schreibe sie ihre eigenen Memoiren und als erinnere sie sich inniger Augenblicke von Liebe und Freundschaft,die Jahrhunderte in der Vergangenheit lagen. Maureen konnte Mathildes Sehnsüchte und Ängste unmittelbar fühlen, als wäre es zu einer Überschneidung ihrer Bewusstheiten und Erinnerungen gekommen.
    Es war nicht das erste Mal, dass Maureen so etwas spürte. Dieselbe beglückende und zugleich bestürzende Erfahrung hatte sie schon beim Schreiben ihres ersten Romans über Maria Magdalena gemacht: Als sie das erste Jahrhundert aus Magdalenas Sicht miterlebte, wäre Maureen vor Schmerz fast verrückt geworden. Natürlich verstieg sie sich nicht zu der Behauptung, in einem früheren Leben Maria Magdalena gewesen zu sein. Nein, was sie beide verband, war etwas anderes: eine magische Gabe für das Geschichtenerzählen, die in der weiblichen Linie ihrer Familie über Jahrtausende hinweg vererbt worden war. Maureen begriff diese Gabe als eine Art genetisches Gedächtnis, ein kollektives Bewusstsein in der DNA dieser Frauen, der Verheißenen. Zeit spielte in diesem Zusammenhang keine Rolle mehr: Es war, als könnte man in sämtlichen Zeitaltern gleichzeitig sein, als geschähe alles synchron.
    Es war ein Wunder und zugleich auf schreckliche Weise schön – eine Verantwortung, die einschüchternd wirkte. Maureen konnte diese Erfahrung nicht verwünschen, da sie vermutlich gottgegeben war, aber sie hatte den größten Teil der vergangenen vier Jahre mit dem Versuch verbracht, dies alles zu begreifen. Sie hielt sich zurück, darüber zu sprechen. Nur Berenger vertraute sie alles an, denn nur er konnte sie und ihre Gefühle verstehen. Auf diese Weise hatte Maureen entdeckt, dass er ihr wahrer Seelengefährte war, ihre fehlende Hälfte. Berenger und sie verstanden einander so mühelos, dass es ihr immer noch wie ein Wunder erschien. Und so war Berenger für Maureen die letzte Zuflucht geworden in einer Welt, die ihre Gabe nicht verstand und deshalb danach trachtete, sie zu vernichten.
    Während der letzten beiden Jahre war Maureen hauptsächlich mit Mathilde von Canossa beschäftigt gewesen. Es begann,als sie die Autobiografie der umstrittenen Markgräfin las, und es endete, als sie ihren zweiten Roman schrieb, um diese bemerkenswerte Frau zu würdigen. »Die Zeit kehrt wieder: Die Legende vom Buch der Liebe« widmete sich Mathildes Abenteuern und Errungenschaften in allen Einzelheiten.
    Heute, an ihrem Geburtstag, war der offizielle Erscheinungstermin für die nordamerikanische Ausgabe; deshalb weilte Maureen in New York. Am Abend gab der Verlag einen Empfang in The Cloisters, der Zweigstelle des Metropolitan