Das Magdalena-Vermächtnis: Roman
Ereignis beizuwohnen. Deshalb hatte er sich dagegen entschieden, mit Sandro in der Prozession mitzugehen; er wollte lieber an Cosimos Seite sein. Dieses Erlebnis wollte er noch mit dem geliebten Großvater teilen, um es als kostbare Erinnerung zu behalten.
Gefühle überwältigten den Heranwachsenden: Trauer um dennahenden Verlust, der die Welt, wie er sie kannte, in Trümmer legen würde, und glühende Verehrung für die Frau, die sie »Königin« nannten. Beides zusammen führte zu dem Gelöbnis, das Lorenzo seinem Großvater an diesem Abend gab. Ein Licht leuchtete in den Augen des Jungen, als er sein Versprechen abgab.
»Ich werde Euch nicht enttäuschen, Großvater. Nichts wird mich aufhalten. Ich werde unseren Herrn und unsere Herrin zufriedenstellen und das Vermächtnis der Medici erfüllen.«
Cosimo legte ihm den Arm um die Schultern und zog ihn an sich. Auch ihm war bewusst, dass dies der Abschied sein würde. »Ich weiß, Lorenzo. Ich weiß es mit größerer Gewissheit, als ich je etwas gewusst habe. Du wirst mich nicht enttäuschen, weil es dir bestimmt ist, Erfolg zu haben. Du wirst unser aller Erlöser sein, der größte Dichterfürst, der je gelebt hat. Du bist es bereits.«
Nun kam das Banner genau vor ihnen zum Halten, und Lorenzo sah, dass Sandro direkt hinter ihm ging. Ihre Blicke trafen sich, und Sandro begann wild zu gestikulieren, dass Lorenzo an seine Seite kommen und den Rest des Zuges mitmachen sollte. Lorenzo schaute zu seinem Großvater, der ihm aufmunternd zulächelte.
»Geh!« Spielerisch schob er Lorenzo in Sandros Richtung. »Zeige deine Verehrung für unsere Königin der Barmherzigkeit, indem du in ihrer Ehrenprozession mitgehst.«
Lorenzo erwiderte das Lächeln und drängte sich durch die Menge zu Sandro. Als die Prozession sich wieder in Bewegung setzte, wurde ein Fackelträger näher an das Banner geschoben und beleuchtete dessen Rückseite. Als er zu Spinellos Meisterwerk hinaufschaute, »Die Geißelung Jesu«, fiel Lorenzo etwas auf, das er vor Stunden noch gar nicht bemerkt hatte: Der Fackelschein war genau auf die Darstellung eines römischen Zenturios gefallen. Und diesem Zenturio hatte Luca Spinello eine gezackte Narbe auf die linke Gesichtshälfte gemalt.
Colombina.
Sie war meine erste Muse. Die erste Frau, die ich immer wieder gemalt habe. Ich kannte Columbina, seit sie sechzehn war, und ich habe nie eine Frau erlebt, die so mutig war wie sie. Sie ist die Tapferkeit und Stärke in Person; zugleich ist sie die schönste Frau, die ich je gesehen habe. Ihre Stärke hat nichts Männliches, sondern entströmt ihrer weiblichen Milde und Güte. Doch sollte dereinst die Geschichte unserer Goldenen Epoche aufgezeichnet werden, so wird Colombinas Name, fürchte ich, in den Annalen fehlen. Es wird ihr ergehen wie vielen Frauen vor ihr, die im ewigen Kreislauf der Geschichte vergessen werden. Was das angeht, wandelt sie auf den Spuren der heiligen Braut, unserer Herrin Magdalena.
Die Hälfte des geistigen Erbes der Menschheit, wenn nicht mehr, wurde durch die Zensur der Geschichte ausradiert. Aber ich werde nicht zulassen, dass Colombina vergessen wird. Ich habe sie gemalt, um ihre einzigartige Kraft und ihre Hingabe an unsere Ziele – und unseren Dichter – zu bewahren, auf dass die Welt eines Tages erkennen möge, wer sie wirklich war.
Deshalb war es ein bedeutender Tag, als mir der Auftrag erteilt wurde, die »Tapferkeit« zu malen. Die Richter des Palazzo dei Mercanti, des Kaufmannsgerichts, hatten eine Allegorie der sieben Tugenden in Auftrag gegeben, die ihren Gerichtssaal schmücken sollte. Offenbar hofften sie, solche Kunst könne ihnen helfen, gerechte Urteile über zänkische Kaufleute zu fällen. Ursprünglich sollte Piero del Pollaiuolo die sieben Tugenden malen. Nun ist er zwar ein fähiger Maler, aber wie sein Name schon sagt, stammt er von Hühnerzüchtern ab, und es gibt tatsächlich Augenblicke, in denen ich sein Werk betrachte und zu der Ansicht gelange, dass es vielleicht besser wäre, ein Stück Huhn mehr auf dem Teller zu haben als ein Gemälde von Pollaiuolo an der Wand.
Manche werden sagen, ich ging zu streng mit ihm ins Gericht. Doch wie ein gnädiges Schicksal es wollte, konnte Piero der Hähnchenbändigernur sechs der sieben Gemälde liefern. Also wurde ich gerufen – durch die Gnade Gottes und der Medici –, um die siebente Tugend zu malen, für die Piero die Inspiration gefehlt hatte: die Tapferkeit.
Und so geschah es, dass Colombina mir
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