Das Magdalena-Vermächtnis: Roman
zur Erde und wieder zurück.
»Das Konzept der wiederkehrenden Zeit gehört zu der langen Reihe von Inkarnationen, in denen die Seelen immer wieder Gestalt annehmen, in endloser Folge, auf der Suche nach ihrer geistigen Familie und besonders nach ihrem wahren Gefährten, dem Zwilling ihrer Seele, wie das Buch der Liebe es ausdrückt.«
»Und wir? Sind wir eine geistige Familie, Meister?«, fragte Colombina.
»Glaubst du es denn, mein Kind?«
Sie nickte. »Natürlich liebe ich meine Eltern und Geschwister, aber auf eine ganz andere Art als meine Freunde. Wenn ich mit Lorenzo, Sandro, Meister Ficino und Euch zusammen bin, spüre ich irgendetwas Tiefes und Schönes. Ich liebe euch alle sehr, und in meinem Herzen weiß ich, dass wir eine wahre Familie sind.«
»›Süßer als die Vereinigung ist die Wiedervereinigung‹«, zitierte Lorenzo aus dem Buch der Liebe.
»Ja, mein Sohn. Und wer ein Herz besitzt, der sieht, dass dies die Wahrheit ist, die für euch beide gilt. Und wie ein großer Troubadour einst geschrieben hat, gilt für eine solche Liebe: Dès le début du temps, jusqu’a la fin du temps. Sagt es mit mir gemeinsam.«
Er lehrte die jungen Leute den französischen Satz, und sie wiederholten ihn, bis sie die Aussprache korrekt beherrschten. Von diesem Tag an wurden die Worte eines unbekannten Troubadours, der das Lied der vollkommenen Liebe auf seine Dame gedichtet hatte, zu einer Wahrheit über Lorenzo und Colombina:
Vom Anbeginn der Zeit bis zu ihrem Ende.
Nach dem Unterricht zeigte Sandro den beiden die Zeichnungen, die er während der Stunde angefertigt hatte. Die erste zeigte Colombina: Sandro hatte die typische Neigung ihres Kopfes auf dem schönen Hals perfekt eingefangen. Auch ihre langen, schlanken Finger, die sich um die Schreibfeder schlossen, waren getreu wiedergegeben.
»In dieser Haltung habe ich dich schon vorher gesehen, deshalb habe ich sie ein wenig aus dem Gedächtnis ergänzt«, erklärte Sandro. Als junger begnadeter Künstler mit einem Auge für Schönheit verehrte er Colombina als Muse. Tatsächlich war das junge Mädchen für beide Freunde zu einer Muse geworden, doch sie rief in jedem eine andere Art von Liebe hervor. Für Lorenzo war Colombina sowohl Eros als auch Agape : eine Liebe des Herzens, der Seele und des Leibes. Für Sandro war sie die Muse der Schönheit, mit der Kraft der Venus, die alles um sich her zu verändern vermag. Zugleich war Colombina seine geistige Schwester im Sinne der Freundschaftsliebe, der Philia . Für den Meister des Ordens vom Heiligen Grab wurde Colombina zu einer besonderen Muse nach dem Vorbild der Frauen der Blutlinie, der Prophetinnen und Schriftgelehrten, die die wahre Lehre nicht nur bewahren konnten, sondern auch Neues hinzufügen wollten. Colombina war seine Tochter im Geiste und erweckte in ihm daher die elterliche Liebe, die Storge .
Und schließlich teilten Lehrer und Schüler jene Liebe, diedie Welt durch Tat und Mitgefühl zu ändern vermag, die eunoia .
»Du bist die höchste aller Musen, Colombina. Du bist alles für uns. Du bist unsere Magdalena.« Sandro küsste sie auf die Wange. Selten zeigte er diese sanfte Seite, doch seine Künstlerseele war von Colombinas Anblick angerührt.
Mit feuchten Augen schaute Lorenzo den beiden zu. Dann nahm er die Zeichnung und bewunderte sie ausgiebig. »Darf ich sie behalten? Sie ist wunderschön.«
»Ich fürchte, das geht nicht, Bruder.« Sandro schnappte sich das Blatt. »Ich brauche sie als Inspiration für künftige Madonnen und Göttinnen der Tapferkeit. Aber ich versichere dir, dass ich unsere Colombina noch viele Male zeichnen werde.«
RRRRRRRRRRRRR
Careggi
1464
»Lorenzo, wir haben einen Feind.«
Colombina hatte Lorenzo am üblichen Ort getroffen, von dem sie stets zu Ficinos Haus aufbrachen. Doch heute war Colombina nicht sie selbst, das sah er. Lorenzo saß von Morello ab und legte die Arme um sie. Da begrub sie ihr Gesicht an seiner Schulter und brach in Tränen aus.
»Was ist, Liebste? Was ist geschehen?«
Colombina hatte vom Weinen einen Schluckauf bekommen. Unter anderen Umständen hätte Lorenzo das bezaubernd gefunden, doch im Augenblick war er vollauf damit beschäftigt, den Feind auszumachen.
»Jemand ist zu Vater gegangen … ich weiß nicht, wer es gewesen sein könnte … und hat ihm von uns erzählt.«
»Was erzählt?«
Der Schluckauf wurde schlimmer. »Oh, Lorenzo, es ist schrecklich!Vater hat mich heute gefragt, ob ich mich dir hingegeben
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