Das Magdalena-Vermächtnis: Roman
Brüder. Sehr wichtig für dich als Maler, Sandro«, erklärte Piero. Sein ruhiges, geduldiges Wesen machte ihn zum geborenen Lehrmeister. »Spinello und die anderen großen Maler pflegten viele Symbole übereinanderzulegen, um unsere Botschaft deutlich zu machen. Seht ihr die Krüge auf den Ärmeln? Eine Erinnerung daran, wer Magdalena in Wirklichkeit war. Sie war die Frau, die Jesus salbte, weil er ein König war und sie seine Ehefrau. Und die Männer haben ihre Köpfe verhüllt, um uns daran zu erinnern, dass Magdalenas Wahrheit ebenfalls verhüllt ist und dass es immer noch als Ketzerei betrachtet wird, wenn wir uns als ihre Anhänger in der Öffentlichkeit zeigen.
Und seht ihr die Öffnungen in den Rücken der Roben? Vordergründig betrachtet sieht es so aus, als wollten die Männer sich selbst geißeln, um Buße zu tun. Es ist aber ein Hinweis auf das, was unser Spinello auf die Rückseite des Banners malte.«
Er führte die beiden Freunde um das Prozessionsbanner herum, damit sie dessen Rückseite sehen konnten. Vor ihren Augenstand eine Geißelszene aus dem Leidensweg Christi: Jesus war an die Geißelsäule gefesselt und wurde von zwei römischen Soldaten ausgepeitscht.
»Auch die Geißelung ist eine Allegorie, die Spinello mit großer Wirkung nutzt. Ich hoffe, ihm hierin nacheifern zu können. Er schuf diese Botschaft, als er mit dem Meister zusammenarbeitete. Sie legten fest, dass die Geißelung eine passende symbolische Darstellung dessen sei, was Jesus widerfährt, sobald wir die Wahrheit seines Lebens und seiner Lehren leugnen. Dann nämlich wird Jesus aufs Neue gemartert, jedes Mal wieder. Die wahre Geißelung Jesu war die Entmachtung seiner Familie und die Fortnahme all dessen, was er der Welt zu geben hatte.
Derselbe Gedanke wird auf der Vorderseite des Banners durch die Büßerroben verdeutlicht, die Platz für die Geißeln lassen, die dazu dienten, sich selbst zu verstümmeln. Die darin verborgene Botschaft besagt, dass wir uns selbst Schmerz zufügen, wenn wir die schöne Königin nicht als unsere Lehrerin anerkennen. Wunderbar, nicht wahr?«
Ehrfürchtig stand Sandro Botticelli vor der Magdalena im roten Umhang. Er war überwältigt von den vielen symbolischen Schichten, die in das Werk eingebracht worden waren.
Aber Piero war noch nicht fertig. »Ich sehe, Sandro, dass deine Künstlerseele ebenso von ihr gebannt ist wie ich. Du betrachtest sie voller Ehrfurcht und fragst dich, warum sie solche Gefühle in dir auslöst, abgesehen von ihrer offensichtlichen Schönheit. Weißt du warum?«
Sandro war nicht umsonst bei Fra Filippo Lippi und Andrea del Verrocchio in die Lehre gegangen. Mit einem Lächeln gab er Antwort. »Weil bei ihrer Erschaffung die Technik der Beseelung benutzt wurde.«
»Sehr gut, Bruder. So war es, in der Tat. Und Spinellos Annäherung an die Technik der Beseelung war etwas ganz Eigenes. Wenn du möchtest, dass deine Gottesmütter und Göttinnen mit Leben erfüllt werden und ihre Geschichte so erzählen wie dieseMagdalena hier, musst du die Technik erlernen. Heute passt es wohl nicht mehr, nehme ich an, hm?«
Alle mussten lachen, weil sie die Antwort nur zu gut kannten. Lorenzo verabschiedete sich, damit die beiden Künstler in Ruhe die Lektion beenden konnten. Er selbst sollte seinen Großvater und den Meister treffen, um gemeinsam mit ihnen die letzten Vorbereitungen für die abendliche Feier zu treffen.
Leiser, summender Gesang erklang in der Dunkelheit, als die feierliche Prozession sich ihren Weg durch die engen Kopfsteinpflastergassen von Borgo Santo Sepolcro bahnte. Fackeln leuchteten den Männern den Weg. Von Kopf bis Fuß waren sie in makellose weiße Roben mit Kapuzen gehüllt, die ihre Köpfe völlig bedeckten. Auf dem Ärmel der Roben war mit rotem Faden das Emblem ihrer Bruderschaft gestickt: der Alabasterkrug, der ihre Ergebenheit für Maria Magdalena und den Orden symbolisierte.
Feierlich zog die Prozession durch die Straßen. In der Mitte des Zuges trugen zwei Vermummte das majestätische Spinello-Banner mit der Magdalena auf dem Thron. Hier war Magdalena wirklich der weibliche Aspekt Gottes und wurde mit Jubelrufen geehrt.
»Madonna Magdalena! Madonna Magdalena!«
Lorenzo schaute sich die Prozession gemeinsam mit seinem Großvater an. Auch wenn er noch so aufgeregt war, wusste er um die Feierlichkeit des Anlasses. Cosimo war dem Tod nahe, und Lorenzo wusste, dass dies für ihn die letzte Gelegenheit sein würde, mit dem alten Mann einem festlichen
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