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Das Magdalena-Vermächtnis: Roman

Das Magdalena-Vermächtnis: Roman

Titel: Das Magdalena-Vermächtnis: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathleen McGowan
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gebären.
    Die Madonna in Botticellis Meisterwerk war voller Anmut. Sie strahlte Vornehmheit und Erhabenheit aus und war angesichts der göttlichen Verkündigung dennoch von Demut erfüllt. Der Erzengel Gabriel, einer der mächtigsten Engel, kniete in Ehrfurcht vor Maria.
    »Stellen Sie sich genau hierher.« Destino geleitete alle an den Platz, an dem die Ausstrahlung des Gemäldes am stärksten zu spüren war. »Verhalten Sie sich still, und nehmen Sie die Kraft des Augenblicks in sich auf. Bewundern Sie das Werk nicht nur mit den Augen, lassen Sie es zu Ihrer Seele sprechen. Es wurde geschaffen, um das Wunder zu vollbringen, zu den Herzen der Menschen zu sprechen – doch nur für jene, die Ohren haben zu hören.«
    So standen sie vor Botticellis »Verkündigung« und erfuhren sie auf ganz neue Weise. Destino beobachtete seine Schäfchen genau und sah, dass Roland und Maureen sofort von der Wirkung des Bildes erfasst wurden. Beide hatten Tränen in den Augen.
    »Kunst ist Erfahrung. Wenn sie aus der Kraft eines Himmlischen geschaffen wird, übersteigt sie das rein Visuelle und wird zu einer Kraft, die man in sich spürt. Ja?«
    »Ja«, wisperte Maureen, immer noch gefesselt von dem erhabenen Moment, der hier so vollendet von Botticelli eingefangen worden war: der Augenblick, in dem eine Frau das ungeheure Versprechen gibt, den Erlöser der Menschheit zur Welt zu bringen.
    »Da Sie sich nun alle im Zustand der Gnade befinden, folgen Sie mir bitte in den nächsten Saal. Dort wollen wir einen Vergleich anstellen.«
    Sie durchquerten den Botticelli-Saal und gelangten in den angrenzenden Saal Nummer 15. An der gegenüberliegenden Wand hing eine weitere meisterhafte »Verkündigung«, aber von ganz anderer Art als Botticellis Bild.
    »Nun stellen Sie sich einmal vor dieses Bild und sagen Sie mir, was Sie fühlen.«
    Zwar bestaunten alle das Gemälde, doch es gelang ihnen nicht, das eigenartige Gefühl der Seligkeit wiederzuerlangen, das sie beim Betrachten des Botticelli verspürt hatten.
    »Ich fühle nichts«, sagte Peter schließlich. »Ich sehe zwar, dass es ein meisterhaftes Bild ist, und ich bewundere es als großartige Leistung, aber es weckt keine Gefühle in mir.«
    Die anderen nickten. Maureen sagte: »Ihm fehlt die Emotion. Die Madonna ist wunderschön, wirkt aber wie aus Marmor. Sie ist seltsam kalt, als wäre sie getrennt vom Geschehen.«
    In dieser Version der Verkündigung hatte Maria ein Buch vor sich auf einem Lesepult liegen. Ihre rechte Hand lag mit ausgestreckten Zeige- und Mittelfinger auf dem Buch, als wollte sie die Stelle, die sie gerade gelesen hatte, nicht verlieren.
    »Es sieht aus, als wäre sie bemüht, ihre Textstelle im Buch nicht zu verlieren«, bemerkte Tammy. »Als hätte der Engel sie beim Lesen gestört – und nun wartet sie, dass er wieder geht, damit sie weiterlesen kann.«
    »Außerdem fehlt die Verehrung Unserer Lieben Frau«, fügteRoland an. »In diesem Bild scheint Gabriel die stärkere Figur zu sein oder zumindest gleich stark. Man hat nicht das Gefühl, als würde der Künstler seine Darstellung auf Maria konzentrieren.«
    Destino nickte zufrieden. »Man kann eben nicht mitteilen, was man selbst nicht empfindet. Dieser Künstler verehrte die Frauen nicht und hatte nicht das richtige Gefühl für das Konzept der Verkündigung. Die technische Ausführung ist zwar hervorragend, aber dieses Bild lehrt uns nichts, es berührt uns weder emotional noch geistig.«
    »Während man bei Botticelli«, spann Maureen den Faden weiter, »die Liebe zu seinem Thema und zu der Frau spürt.«
    »Sandro liebte und verehrte die Frauen. Er war ein leidenschaftlicher Kämpfer für das Göttlich-Weibliche. Das spüren Sie in seinem Werk, während der andere Künstler Sie eher kaltlässt.«
    »Wer ist denn der andere Künstler?«, fragten Tammy und Maureen wie aus einem Mund.
    Destino führte die Argumentation zu Ende, die er im Botticelli-Saal begonnen hatte. »Leonardo da Vinci. Ich habe Ihnen ein Werk Sandro Botticellis und eines von Leonardo gezeigt. Der eine war ein technisches Genie, der andere ein himmlischer Meistermaler. Nun kennen Sie den Unterschied.«
    Destino führte sie in den Botticelli-Saal zurück und zeigte ihnen verschiedene Madonnen. Alle zeigten eine ähnliche Neigung des Kopfes, besaßen eine helle Porzellanhaut und Augen von einem hellen Haselnussbraun. In einer gläsernen Vitrine hingen zwei kleinere Gemälde mit der alttestamentarischen Heldin Judith nach der Ermordung und

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