Das magische Land 2 - Das Amulett der Schlange
Vielleicht zielte er darauf ab, dass Averil sich über seine Vernachlässigung ärgerte. Wahrscheinlicher war, dass er ihr Zeit geben wollte, um über das, was er ihr gezeigt hatte, nachzudenken; zu einem gegebenen Moment würde er zurückkommen und sie erneut in Versuchung führen. Es war ein Jammer, dass sie ihm nicht trauen konnte. Es wäre praktisch gewesen. Auch angenehm, was gewisse Dinge anging.
Es gab einen Mann von der anderen Seite des Meeres, dem sie vertrauen konnte, was Darienne und die anderen Damen auch sagen mochten. Sie betrachtete Dylan Fawr als Freund und aufrichtigen Verbündeten. Er war kein Freier, obwohl er nach Alter, Rang und unverheiratetem Familienstand akzeptabel gewesen wäre. Aber seine Blicke wurden in dieselbe Richtung gezogen wie Averils Blicke; er war diskret, aber ihren wachsamen Augen war es nicht entgangen. Wenn sie völlig verzweifelt war, könnte sie ihn vielleicht bitten, sie vor einem schlimmeren Schicksal zu bewahren, aber es war ihr zuwider, ihre junge Freundschaft derart überzustrapazieren, während es anderswo noch Hoffnung geben mochte.
Er kam zu ihr, zehn Tage nachdem der König Averil das Ultimatum gestellt hatte. Jeden Morgen zählte sie beim Aufwachen die Tage, die ihr noch in Freiheit blieben, und betete, dass der neue Tag ihr eine Fluchtmöglichkeit bieten würde. Aber nichts geschah.
Zwei Wochen noch. Kalter Regen fiel vom Himmel, was jede Hoffnung auf einen Ausritt im königlichen Park, wo sich das Laub bereits golden gefärbt hatte, zunichtemachte. Der Hof hatte sich weitgehend in die Halle zurückgezogen. Dort im Warmen vertrieben sie sich die Zeit mit Würfelspielen, Tanzen und spielerischem Schwertgeplänkel.
Averil hätte nichts dagegen gehabt, mit ein, zwei Gegnern die Klingen zu kreuzen, doch das wäre ein Skandal gewesen. Als Frau war ihr auch das Spiel mit Würfeln nicht erlaubt — nur das Spiel mit den Herzen der Freier. Somit blieb das Tanzen oder der Austausch von Klatschgeschichten, wenn es ihr allzu langweilig wurde, den ganzen Tag herumzusitzen und sich bewundern zu lassen.
Dylan Fawr erwies sich als gelenkiger und unermüdlicher Tanzpartner. Als ihr Atem immer schneller ging und die Musik zu unerträglichem Gekreische anschwoll, lenkte er Averil aus dem Kreis der Tanzenden in plötzliche Stille.
Die Wandelgänge am Rand des Hofs waren für ein Stelldichein wie geschaffen. Bei einem Freier hätte sich Averil über derartige Absichten nicht gewundert, doch dieser Mann hatte nichts dergleichen im Sinn. Sie öffnete den Mund, um ihn nach seinem Vorhaben zu fragen.
Mit einer stummen Geste bat er sie zu schweigen. Mit einem Blick forderte er sie auf, zum anderen Ende des Wandelgangs zu schauen.
Zwei Schatten standen dort dicht zusammen, sicher waren es keine Liebenden. Sie flüsterten, aber durch irgendeinen akustischen Trick hörte sie jedes Wort, obwohl sie nicht wusste, wer da sprach, nur dass beide Männer waren. »Wo ist der König dieses Mal? Soweit wir wissen, ist er für vierzehn Tage verreist.«
»Dann wisst Ihr, wo er ist.«
»Weiß ich das?«
»Er ist, wo er immer ist, wenn er mit einer seiner Armeen verschwindet: irgendwo unterwegs, um die Welt zu erobern.«
»Ich dachte, das wäre ihm langweilig geworden, nachdem er Quitaine an der Angel hat.«
»Dem König ist niemals langweilig. Wenn er nicht herumschleicht und etwas tötet, könnt Ihr Euch darauf verlassen, dass er über seine nächste Hetzjagd nachdenkt.«
»Was ist es diesmal? Gotha? Moresca? Das heilige Romagna?«
»Warum sollte er sich die Mühe machen? Erjagt eine größere Beute. Er hat die Rose zu Fall gebracht. Nun stellt er eine Flotte zusammen, um die Insel zu Fall zu bringen.«
»Das ist Wahnsinn.«
»Findet Ihr? Keiner hat jemals die Priesterinnen angegriffen. Man hat es nicht einmal versucht.«
»Aus gutem Grund. Sie verfügen über genügend Magie, um die ganze Welt abzuwehren.«
»Vielleicht war das einmal so. Die Rose verwelkte in einer einzigen Nacht. Die Insel wird nicht so leicht zu bezwingen sein, doch er wird sie erobern. Keiner der Magier und Magierinnen des Erschaffens und des Buches kann sich der Macht widersetzen, die er auf seine Seite gezogen hat.« »Es stimmt, dass die Orden ihm nicht viel entgegenzusetzen haben. Die Hälfte von ihnen gehört mittlerweile schon ihm, und die Übrigen sind zu schwach, um zu kämpfen. Aber …«
»Jeder fürchtet sich vor den Priesterinnen. Darauf verlassen sie sich. Nur er fürchtet sich vor
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