Das magische Land 2 - Das Amulett der Schlange
nichts.«
»Nicht einmal vor dem Tod?«
»Er glaubt, dass er nicht sterben kann. Die, der er dient, wird ihm die Macht geben, ewig zu leben.«
»Nun gut. Das ist sogar noch wahnsinniger als alles andere.«
»Ist es Wahnsinn, wenn es die Wahrheit ist?«
Die Musik hatte aufgehört zu spielen, während die Männer sprachen. Als sie wieder anhob, übertönte sie jedes weitere Wort, das sie sagen mochten. Averil hatte alles gehört, was sie hören musste. Sie wandte sich zu Dylan Fawr um. Er nickte ihr kurz zu, bevor er sie an sich zog und sich zu ihr herunterbeugte, wie um sie zu küssen.
Sie erstarrte, aber bevor sie sich zur Wehr setzen wollte, nahm sie das Rascheln von Röcken und das Kichern einer Frau in Begleitung eines mit Schmuck behangenen, in Samt gekleideten Herrn wahr. Als sie in einer Parfumwolke vorbeirauschten, fielen ihre Blicke auf Averil und Dylan Fawr, die scheinbar die gleichen Absichten hatten. Die Hand des eleganten Kavaliers befand sich bereits unter dem Rock seiner Angebeteten, und ihre machte sich an seinem Hosenstall zu schaffen.
Irgendwie fand Averil dies schockierender als den Tanz der Nackten, den Esteban ihr in jenem Garten gezeigt hatte. Jener war vollkommen unbefangen gewesen. Dies hier war so verlogen wie die bunte Maske vor dem Gesicht der Dame.
Averil war froh, als Dylan Fawr sie zurück in die Halle führte, aber noch froher war sie, sich in die halbwegs sichere Zufluchtsstätte ihrer Gemächer zurückziehen zu können. Dort ließ er sie bei Jennet und ihren scharfsichtigen Zofen zurück, und als er sich über ihre Hand beugte, um sich zu verabschieden, sagte er nur für ihre Ohren: »Wenn Ihr mich braucht, Ihr müsst es nur sagen.«
Sie neigte den Kopf, was als Freundlichkeit oder Zustimmung ausgelegt werden konnte. Sobald er sich zurückgezogen hatte, gab sie Kopfschmerzen und Unwohlsein vor, was es nötig machte, sie zu entkleiden und sie mit einer Tasse heißer Milch im abgedunkelten Zimmer allein zu lassen.
Die Kopfschmerzen waren nicht vorgetäuscht. Sie lag im dämmerigen Licht und hörte, wie der Schneeregen gegen die Fensterläden gepeitscht wurde. Was sie belauscht hatte, hätte sie nicht schockieren dürfen. Die Ritter hatten es seit Langem erwartet; die Priesterinnen hatten die Magie der Insel verstärkt, um sich dagegen zu wehren. Alle Mächte, die es auf der Welt gab, um die Hexerei des Königs zu bekämpfen, waren dort versammelt, in Erwartung seines Angriffs.
Und dennoch hatten die beiden adligen Herren einen großen Mangel in ihrer Planung gesehen. Die Orden hatten die alten Magieformen so vollkommen unterdrückt, dass sie mittlerweile vergessen waren. Wie tapfer die Priesterinnen auch kämpfen mochten, so konnten sie nicht wissen, was sie angreifen würde und auf welche Weise und dass es ein Werk sein konnte, gegen das sie keine Verteidigungsmittel hatten.
Das Herz von Averils Magie lebte außerhalb der Orden. Gereints Magie war davon sogar noch weiter entfernt: Er hatte den größten Teil seines Lebens nichts von ihnen geahnt. Er hatte nicht einmal etwas von der Notwendigkeit des Argwohns gegenüber der wilden Magie geahnt, die jeder Magier in der zivilisierten Welt von Kindesbeinen an hasste und fürchtete.
Sie wendete sich dem Silberschimmer in ihrem Inneren zu, dem Netz aus Sternen, das die Ritter miteinander verband. Ob wohl er ihr im Moment nicht wohlgesinnt war, war Gereint da, mit ihr verwoben, sodass nicht mehr zu sagen war, welche Magie zu ihr und welche zu ihm gehörte.
Wie verärgert er auch über sie sein mochte, seine Magie umschlang sie wie zwei warme, starke Arme. Sie führte sie durch das Netz aus Sternen zu einem, der ein bisschen heller schimmerte als die Übrigen. Als sie ihn berührte, erblühte er zu einer windigen Landzunge und einem Regenschauer und einem Bauernhaus am Fuße eines Hügels. Neben dem Bauernhaus befand sich eine Gießerei, wo ein Ritter und ein Novize über einem Schmelzofen arbeiteten und Sand und Seegras und Kalk zu Glas verarbeiteten.
Auf einem Tisch an der Wand stand ein Spiegel. Der Ritter nickte Averils unsichtbarer Gestalt zu, und verbeugte sich so tief, dass sie sich fragte, welche Geschichten ihm über sie erzählt worden waren. Sie bewegte sich auf den Spiegel zu, der kurz zuvor enthüllt worden war: Ein zusammengefaltetes Tuch aus schwarzer Seide lag daneben.
Der Spiegel war größer als die üblichen Seherspiegel und von bemerkenswerter Qualität. Selbst auf der Insel wäre er eine Rarität gewesen.
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