Das magische Land 2 - Das Amulett der Schlange
Averil verneigte sich vor der Kunstfertigkeit des Mannes, der ihn geschaffen hatte, hauchte ein Gebet für alle reinen Herzen und schaute in den Spiegel. Zunächst hatte sie das Gefühl, als würde sie auf das Amulett schauen, das sie immer um den Hals trug, Ranken aus Rot, Grün, Silber und Blau, die sich auf der Oberfläche umeinander-schlangen. Dann lösten sich die Formen in Schlangen auf, die sich spiralenförmig schlängelten und in den Schwanz der jeweils nächsten bissen. Ein Teil von ihr war starr vor Entsetzen, aber der Rest sah nichts als Schönheit in jenen geschmeidigen Körpern und glitzernden Schuppen.
Ohne Vorwarnung fielen sie auseinander und glitten in die Tiefen des Spiegels hinein. Aus großer Höhe schaute sie hinunter auf eine tiefe Bucht und einen geschützten Hafen, und in dem Hafen lag eine Flotte von Schiffen. Hunderte lagen dort und weitere waren auf dem Strand und wurden mit den letzten Hammerschlägen des Schiffszimmermanns bearbeitet.
Es waren schwarze Schiffe mit schwarzen Segeln, und jeder Bug war mit gelben Schlangenaugen bemalt. Die Zauber, die in die Planken gewirkt waren, klangen wie das allzu vertraute Zischen von Schlangen; die Männer, die auf den Decks und in den Werften arbeiteten, hatten die ausdruckslosen und leeren Gesichter von jenen, die ihrer Seelen beraubt worden waren. Sie hatte ganze Armeen gesehen sowie Priester und Schreiber und Magier, die weder Leben noch Geist in sich hatten. Aber diese vergleichsweise wenigen erfüllten ihr Herz seltsamerweise mit größerer Kälte.
Sie schwärmten wie Ameisen über die Schiffe. Einzeln verfügten sie weder über Verstand noch Willen, aber zusammen bewegten sie sich mit Schrecken erregendem Zielbewusstsein.
Averil hatte in einer gläsernen Kugel gelebt, umgeben vom Trugbild des Hofes. Hier war die Wirklichkeit, die der König geschaffen hatte. Nichts war sicher vor ihm oder vor der Macht, der er diente.
Sie fühlte seine glitschige Gegenwart in dem niedrigen rechteckigen Schloss, das über der Landzunge thronte. Es war sehr alt; seine Wände waren im Laufe der vielen Jahre verwittert, aber die Räume im Inneren waren neu hergerichtet worden. Er saß in der Halle auf einem hohen vergoldeten Stuhl, das Kinn aufgestützt, mit finsterem Blick auf den Mann in priesterlichem Schwarz, der ihm aus einer verblichenen Schriftrolle vorlas.
Averil kannte die Sprache der Schriftrolle. Sie war uralt und außerhalb der Insel und des Rosenordens so gut wie vergessen. Die Worte, die Gamelin las, waren obskur und beinahe unbegreiflich, aber sie sprachen von einem Leichentuch und einem Speer und einem gläsernen Käfig.
Sie fühlte ein Kribbeln im Nacken. Dies waren die Mysterien der Rose: das Leichentuch, in dem der Junge Gott begraben wurde, nachdem er beim Bezwingen der Schlange gestorben war; der Speer, mit dem er es getan hatte; und das Gefängnis, in das die Schlange eingesperrt worden war.
Auf einem Tisch vor dem König lagen zwei Dinge: ein Stoffbündel, das von einer vergilbten Schnur zusammengehalten wurde, und ein Speer mit gebrochenem Schaft. Von der dritten Sache war nichts zu sehen. Dann sagte der König: »Seid Ihr sicher, dass da nicht steht, wo das Dritte ist?« »Weder hier«, sagte Gamelin, »noch sonst irgendwo. Dieses Wissen muss niemals aufgeschrieben worden sein. Wenn es so wäre, hätte mein Zauber es gefunden.«
»Einer der Ritter weiß es«, sagte der König. »Der Orden in Lys ist zerstört, doch den Rest der Welt suchen sie noch heim. Sicher gibt es einen Zauber, der denjenigen finden kann, der das Geheimnis bewahrt.«
»Sie waren immer Meister der Verteidigungszauber«, sagte Gamelin, »und dies verteidigen sie verbissener als alles andere.«
»Findet es, Gamelin«, sagte der König. »Findet es bald. Das letzte Schiff wird beim nächsten Schwarzmond fertig sein. Dann müssen wir segeln, bevor die Winterstürme kommen.«
»Wir sollten vielleicht bis zum Frühling warten, Majestät.«
»Nein«, sagte der König. Das Wort klang, als würde ein Tor geschlossen. Gamelin öffnete den Mund, als wolle er weitere Einwände erheben, besann sich jedoch eines Besseren. Er verbeugte sich, rollte die Schriftrolle zusammen und legte sie in einen Schrein, der genauso alt aussah wie das Pergament. Der König schien ihn bereits vergessen zu haben. Sein Blick ruhte wieder auf dem Speer und dem Stoff, der das Leichentuch sein musste, und seine Miene verfinsterte sich zunehmend. »Nutzlos«, sagte er zu sich selbst.
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