Das magische Land 2 - Das Amulett der Schlange
in den See mündete.
So tief stiegen sie nicht hinab. Esteban ging eine überraschend breite, offene Treppe unterhalb des Weinkellers hinunter. Kristallene Lampen schimmerten, die aufleuchteten, wenn sie von Magie gestreift wurden.
Die Wände der oberen Gewölbe waren aus schlichtem Stein, wie man es in einem Keller erwartete. Während Averil hinter Esteban die Stufen hinabstieg, erschienen Anzeichen von Farbe: Überreste von Gemälden, längst abgeblättert und verblichen, und noch weiter unten kunstvolle Mosaike im Stil des alten Romagnareiches. Dann wurden die Mosaike schlichter und verschwanden, woraufhin wieder Bilder folgten — aber was für Bilder. Averil hatte so etwas noch nie gesehen.
Sie schienen eigentlich recht harmlos: Bilder von Wäldern mit Wild und Vögeln, Herden von buckligen Rindern und stämmigen Falben und Hirschböcken, deren Geweihe sich von einer Wand zur anderen erstreckten. Seltsame stockartige Gestalten jagten sie mit Speeren und Pfeilen. Es gab Schönheit hier, die jedoch ganz anders geartet war als alles, was sie bislang kannte. Sie folgte den Stufen und Heß Esteban hinter sich.
Die Treppe mündete schließlich in eine riesige schimmernde Halle. Es war eine Höhle, so weit und hoch wie eine Kathedrale; ihre Wände und Pfeiler wirkten, als bestünden sie aus Gold und Perlen, Malachit und Jaspis und Lapislázuli.
Hier befanden sich keine Werke von menschlichen Händen, und dennoch waren die Wände voller Bilder. Geschmeidige Gebilde wanden sich zwischen den Säulen, die Wände hinauf und hinunter und über den Fußboden. Es waren nicht nur Schlangen, denn einige hatten Flügel, andere zeigten glänzende Krallen.
Averil suchte in ihrem Inneren nach Abscheu, fand jedoch nur eine Art von Frieden. Es war, als wäre sie im Inneren des Amuletts, das Gereint ihr geschenkt hatte.
Ein verzweigtes Gebilde am anderen Ende der Halle zog ihre Blicke auf sich und ließ sie näher treten. Es sah aus wie ein riesiger Baum, eine Art Weltbaum, mit einer Schlange in seinen Ästen. Sie schimmerte gold-, silberund bronzefarben und grün. Ihre Augen waren reines Gold.
Ein tiefer Schauder überkam Averil. Sie hatte diese Augen schon einmal gesehen, an einem Ort, wo man sie viel weniger erwartet hätte als hier: in der Kapelle der Insel, bevor sie übers Meer gesegelt war, um ihr Erbe anzutreten. Jetzt wie damals befahl ihr ihre ganze Erziehung, vor Entsetzen zu erstarren, doch ihr Herz fand nichts Böses. Es lag Schönheit in diesen glänzenden Schuppen und goldenen Augen, sie sprachen von uralter Weisheit und göttlicher Ruhe. Die Schlange betrachtete sie mit tiefem Verstehen. Sie erkannte sie wieder. Sie war die Nachfahrin der Paladine, aber ihre Magie war weitaus älter. Die Mutter aller Götter hatte sie gesegnet, und die wilde Magie hatte sie als eine der ihren anerkannt.
In der Kapelle der Priesterinnen war sie vor der Wahrheit zurückgeschreckt, weil sie noch nicht bereit gewesen war, sich ihr zu stellen. Sie war immer noch nicht bereit, aber sie hatte seitdem mehr gesehen und mehr getan, als sie es jemals erwartet hätte. Einiges, was sie gesehen hatte …
»Sklaverei«, sagte sie. »Hexerei. Seelen, die aus lebendigen Körpern gerissen und aufgefressen werden, bis nichts davon übrig bleibt, nicht einmal die Erinnerung. Wie konnte sie dazu werden?«
»Wie kann sich irgendetwas Gutes zum Bösen wenden?«
Esteban stand hinter ihr. Er erdreistete sich nicht, sie zu berühren, was klug war.
»Haltet Ihr den König für böse?«, fragte sie.
»Ich glaube, er betreibt eine Form der Anbetung, die von jenen, die sie ins Leben riefen, nicht beabsichtigt war.«
»Ein Pfad zur linken Hand?«
»In der Tat.«
»Ich ziehe meine linke Hand der rechten vor«, sagte Averil. »Zieht Ihr die Art des Königs dem vor, was Ihr hier seht?« »Was sehe ich denn?« »Wahrheit«, sagte Esteban.
Sie wandte sich um und schaute ihm ins Gesicht. Seine Augen waren dunkel, und dennoch erinnerten sie Averil an die der Schlange: klar und weise und mit einem Schimmer von Bosheit. »Was ist die Wahrheit?«, stellte sie ihn zur Rede. »Ich sah, was mein Onkel aus unserer Welt machen würde. Alles was man uns lehrte, würde er zunichtemachen; er wird uns zu Sklaven machen und unsere Seelen zerstören.«
»Er wurde auf dieselbe Weise ausgebildet wie Ihr«, sagte Esteban. »Überrascht es Euch, dass er sich davon abwendet?«
»Nein«, sagte Averil. »Aber ist es nicht so gewesen? Der Junge Gott hat uns alle errettet und
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