Das magische Land 2 - Das Amulett der Schlange
ihm hatte eine rotgoldene Haarmähne und einen Körper, der dem ihrem auf beunruhigende Weise ähnlich war. Trotz ihres hellen Teints neigte sie nicht zum Erröten, aber jetzt spürte sie, wie ihre Wangen heiß wurden. Die Gedanken, die ihr kamen, hatten nichts mit ihr zu tun. Dieser Ort musste sie hervorbringen.
Er zog sie von der Wand fort. Sie brachte nicht den Willen auf, sich zu widersetzen, selbst als er sie immer tiefer in die Höhle führte, bis hinab zur Quelle des schimmernden Lichtes.
Es war ein Teich, tief und vollkommen klar. Eine niedrige Steinmauer umschloss ihn: das einzige Werk menschlicher Hände in dieser Höhle. Averil blieb stehen, um ins Wasser zu schauen.
Etwas lag zusammengerollt da, schlafend. Durch die Verzerrung des Wassers war es schwer auszumachen, aber ihre Knochen verrieten ihr, dass es sehr tief und sehr groß war. Seine Farben waren vertraut: Gold, Silber, Rot und Grün. Das goldene Auge konnte sich nicht schließen, doch sein leerer Blick verriet, dass es schlief.
Das Amulett zwischen ihren Brüsten wurde plötzlich schwer und zog sie nach unten. Als sie die Hand darauf presste, ließ ein plötzlicher Hitzeschwall sie nach Luft schnappen.
Doch genauso schnell wie es gekommen war, hatte sich das seltsame Gefühl auch wieder verflüchtigt. Wahrscheinlich hatte sie es sich nur eingebildet. Dies war ein sonderbarer Ort, und sie befand sich in einer äußerst merkwürdigen Stimmung.
Sie zog sich vorsichtig zurück und wandte sich Esteban zu. »Ist das …?« Er schüttelte den Kopf. »Nur ein Ebenbild. Aber ein wirklichkeitstreues Ebenbild. Der Zauber reflektiert Die Erhabene, wo auch immer sie sich befindet.«
Averil atmete tief ein und zwang sich, wieder zurück in Richtung Wand zu gehen. Natürlich war dies nicht das Gefängnis der Schlange. Wäre es das, hätte der König längst Besitz davon ergriffen und die Schlafende geweckt. Sie schaute auf die schimmernden Windungen. Es war ein wunderschöner Anblick. Die Schuppen schienen aus Kristall zu bestehen, die Augen aus goldenem Bernstein, die Pupillen aus schwarzem Gagat.
Tiefe Ruhe und übernatürlicher Frieden umgaben die Schlange. Da war nichts von jenem eingeschlossenen Zorn, den ihre Lehrerinnen immer beschworen hatten. Es schien Averil, als hätte sie ihre Gefangenschaft selbst gewählt, als wäre sie ein Teil irgendeines riesigen Plans, der für Sterbliche nicht zu durchschauen war.
Ihr ganzes Leben lang hatte sie geglaubt, die Schlange sei das Böse schlechthin und durch ihren Sturz sei die Welt gerettet worden. Wenn das nicht die Wahrheit war, was war dann noch alles gelogen? Hatte selbst die Mutter aller Götter sie mit Lügen umgarnt?
Averils Kopf drohte zu zerspringen. Sie hatte es schon als quälend genug empfunden, als sie erkannt hatte, welch großer Teil ihrer Magie aus wilder Magie bestand, die als Übel verdammt wurde. Wenn die Schlange nun ganz anders war, als man es sie gelehrt hatte, gerieten sämtliche Grundfesten ihrer Welt ins Wanken. Sie trieb hilflos im Nichts, ohne Hoffnung auf einen sicheren Anker.
Esteban beobachtete sie. Er schwieg, aber seine Augen schauten sie erwartungsvoll an. Er hatte sie an diesen Ort gebracht, um sie an allem zweifeln zu lassen, was sie bislang zu wissen geglaubt hatte.
Es wäre einfach gewesen, ihn zu hassen, doch Averil entschied sich selten für den einfachen und bequemen Weg. Allerdings fragte sie sich, wie sie mit alldem umgehen sollte.
Ihr Verhalten angesichts der wilden Magie war nicht von Besonnenheit gekennzeichnet gewesen: Zuerst hatte sie sie verabscheut, dann hatte sie sich dagegen gewehrt, um sich ihr schließlich zähneknirschend zu fügen. Sie wollte hier nicht dasselbe tun. Mit Mühe brachte sie genug Kraft auf, um zu sagen: »Ich weiß nicht, ob ich dieses Ding verehren kann.«
»Sie hat nie nach Huldigung verlangt«, sagte Esteban. »Das ist ein menschlicher Trugschluss, der zu solchen Auswüchsen geführt hat, wie Ihr sie bei Eurem König erleben könnt.«
»Was wollte sie dann? Außer Seelen zum Fressen?«
»Sie wollte einfach nur sein«, sagte er. »Sterbliche haben sich immer vor dem gefürchtet, was sie nicht verstehen. Manchmal wandelt sich Furcht in Anbetung, manchmal in Hass. Aber jene, deren Verstand erfassen konnte, was Die Erhabene lehrte, waren freier im Herzen und im Geist, als es Menschen jemals gewesen sind — so frei, dass die Götter Angst bekamen. Und wenn Götter sich fürchten, kann das Welten zum Einstürzen bringen.« »Wovor
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