Das magische Land 2 - Das Amulett der Schlange
Fawrs verlorenes Schiff war diese Stadt voll von Leuten, die nicht menschlich waren. Nicht immer war es offensichtlich. Die Wildvolkwesen jenseits des Meeres waren so sonderbar, wie es lebendige Geschöpfe nur sein konnten; nur wenige von ihnen hatten mehr als eine vage Ähnlichkeit mit normalen Sterblichen. Hier in Prydain hielten sie es anscheinend für besser, sich der Bevölkerung anzugleichen, statt sie mit ihrer Andersartigkeit zu erzürnen. Nur wenn sie sie aus den Augenwinkeln betrachtete, erkannte sie die Eigentümlichkeiten: ein Katzenauge in einem runden braunen Gesicht, ein Ohr, das an ein halb entfaltetes Blatt erinnerte, ein Mann, der ihr nur bis zur Taille reichte, aber genauso massig wie Gereint war.
Sie lebten, arbeiteten, tranken und feilschten genauso frei wie die Menschen. Als ihr der verlockende Duft nach frischen Fleischpasteten in die Nase stieg, blieb Averil stehen, und Gereint brachte ihr eine Portion für einen Kupfergroschen. Der Bäcker war ein sehr großes, gertenschlankes Wesen von unbestimmtem Geschlecht und mit Augen, die so klar waren wie Wasser. Als er, sie oder es lächelte, kam eine Vielzahl scharfer, spitzer Zähne zum Vorschein.
Averil hatte das Wildvolk aus Ehr- und Pflichtgefühl und zum Schutze ihres Volkes in ihrem Herzogtum willkommen geheißen. Sie hatte sich jedoch in seiner Nähe niemals richtig wohlgefühlt. Durch ihre größere Ähnlichkeit mit den Menschen hatten die hiesigen Wildvolkwesen beinahe etwas Beruhigendes — aber nur beinahe. Im Grunde ihres Herzens war sie eben immer noch ein Kind der Orden.
Gereint teilte dieses Unbehagen nicht. Er bewegte sich zwischen den Sonderbaren mit der gleichen Selbstverständlichkeit wie zwischen den eindeutig sterblichen Bürgern. Es gab keinen Zweifel daran, welcher der beiden Gruppen er angehörte, aber durch seine Magie stand er dem Wildvolk näher, als es für einen sterblichen Magier ratsam war.
Sie aß eine ganze Fleischpastete und den großen Teil einer weiteren: Sie waren reichhaltig und schmackhaft und füllten ihren Magen mit behaglicher Wärme. Während Gereint sich über die Reste hermachte, schlenderte sie zu einer Kirche, die sich an der Ecke gegenüber vom Bäckerladen befand. Sie war klein und unsagbar alt, mit einem niedrigen, quadratischen Turm und einem steinernen Türbogen.
Die Tür stand offen. Sie trat durch den Bogen in einen überraschend warmen, dämmerigen Raum. Das Muster der hohen, schmalen Mosaikfenster war ein halbes Jahrtausend alt.
Das war ziemlich alt, aber der abgetretene Steinfußboden musste noch viel älter sein. Langsam ging sie auf den Altar zu. Er bestand aus demselben blassgoldenen Stein wie die Bodenplatten: ein Tisch auf einem Sockel, sehr schlicht, mit einem ewigen Licht und einem goldenen Reliquienschrein. An der Wand hinter dem Altar befand sich ein verblichenes Gemälde des Jungen Gottes. Die zwölf Paladine umringten ihn, und die neun Priesterinnen verneigten sich zu seinen Füßen. Mit seiner Hand erhob er den Speer, und über ihm bog sich die Schlange mit weit geöffnetem Maul und gifttriefenden Zähnen.
Averil starrte auf die Paladine. Der Jüngste und Meistgeliebte stand wie immer zur Rechten, Schwert und Helm des Jungen Gottes wie ein Knappe in den Händen haltend. Er war blond, mit weichen Wangen, so wie sie ihn auf allen Gemälden gesehen hatte.
Er hatte keine besondere Ähnlichkeit mit Peredur. Sie erkannte Longinus, ernst und finster, mit einem Speer in der Hand, und die Heilige Madeleine mit einem goldenen Becher und dem gefalteten Bündel, bei dem es sich um das Leichentuch des Jungen Gottes handelte. Melusine stand ein gutes Stück abseits, wie immer auf diesen Darstellungen, das Gesicht verschleiert und der Körper halb abgewandt, die Hand nach der Schlange ausgestreckt. Hier waren keine Antworten zu finden, nicht auf die Fragen, die Averil auf der Seele brannten. Sie begnügte sich mit dem Frieden, der an diesem dämmerigen Ort herrschte, erfreute sich an seiner Stille und an dem Weihrauchduft, der von dem uralten Mauerwerk ausging.
Sie kniete sich vor den Altar und senkte den Kopf. Dabei bemerkte sie, dass der Fußboden nicht einfach aus abgetretenen, unebenen Steinplatten bestand. Er war mit Gravierungen verziert, die von unsagbarem Alter kündeten. Bei solchen Kirchen war es häufig so, dass man beim Bau Überreste älterer Schreine verwendet hatte. Diese Kirche war auf den Ruinen eines solchen alten Schreins errichtet worden: Die Gravierungen auf dem
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