Das magische Land 2 - Das Amulett der Schlange
Fußboden hatten einst die obersten Bereiche des Schreins geziert. Sie waren so abgetreten, dass Averil nichts weiter als ein paar gewundene Linien und Hervorhebungen erkennen konnte.
Sie folgte ihnen am Altar vorbei zu einer niedrigen, schmalen Tür, hinter der es nach feuchter Erde und altem Stein roch.
Sie erzitterte tief in ihrem Inneren, aber der Drang, in die Krypta hinabzusteigen, war einfach unwiderstehlich. Sie schaute sich um. Gereint war immer noch hinter ihr, er schwieg und machte keine Anstalten, sie aufzuhalten.
Gott wusste, was sie dort unten finden würde. Alte Grabstätten wahrscheinlich. Sie rief ein Licht ins Leben, um den steilen Abstieg zu erhellen.
Die Tür war fast zu schmal für Gereint. Ohne Murren quetschte er sich hindurch.
Die Krypta war rund und hatte ein niedriges Deckengewölbe, und hinter den Säulen befanden sich Nischen. Darin standen Tische aus Stein, auf denen steinerne Statuen lagen, starre Figuren, die Hände über der kalten Brust gefaltet. Unter jedem Händepaar ruhte der Griff eines Schwertes. Dies waren die allerersten Ritter. Die Rose war in jede Grabplatte eingraviert. Auch Namen waren eingraviert, abgewetzt von all den Jahren: Pelagius, Orosius, Gereint.
»Schau«, sagte Averil.
Der lebendige Gereint beugte sich herab, um das eingravierte Gesicht zu betrachten. Es war streng, mit langer Nase und langem Bart: ganz anders als seine treuherzigen Gesichtszüge mit den immer noch bartlosen Wangen. »Dies sind die ersten Ritter nach den Paladinen«, sagte er voller Staunen. »Wie sind sie hierhergekommen? Ich dachte, sie wären alle in Lys.«
»Dort nahmen sie ihren Anfang«, sagte Averil, »dann kamen sie hierher, um den Glauben des Jungen Gottes zu verkünden. Er hat sich hier auf der Insel anders verbreitet, wie man sehen kann, aber er war sehr stark und dauerhaft.« »Vielleicht können wir daraus lernen.« Er verließ seinen Namensvetter und wanderte im Kreis der Grabstätten umher. Auf der anderen Seite der Krypta blieb er stehen. »Kommt her«, sagte er.
Seine Stimme klang sonderbar. Averil beeilte sich nicht, dennoch ging sie schneller, als sie es sonst getan hätte.
Die Grabstätte, vor der er stand, war kahl. Keine Statue lag darauf. Der eingravierte Name war weggemeißelt worden. Aber als er die Stelle berührte, wo er gewesen war, schimmerte hellblaues Licht unter seinen Fingern.
Der Name war noch da. All die Jahrhunderte und alle Arglist hatten ihn nicht auslöschen können: Melusine.
Averil trat einen Schritt zurück, aber sie wollte nicht länger davonlaufen. Sie zwang sich, nach vorn zu gehen.
Gereint zog die Umrisse der verschwundenen Statue nach. Wie der Name war auch sie noch da — für jene, die sie sehen konnten.
»Sie brachten sie hierher«, sagte er leise, als ob sie vom Klang seiner Stimme erwachen könnte. »Sie wussten Bescheid. Sie erinnerten sich, wer sie war. Sie verehrten sie.«
So schien es tatsächlich. Das Abbild war liebevoll gearbeitet, lebensechter als die Statuen sämtlicher Ritter. Averil erkannte das Gesicht wieder: Sie sah es jeden Tag im Spiegel.
Diese Tatsache entsetzte sie nicht so sehr, wie sie es vielleicht erwartet hätte. Diese Krypta, dieser Schrein mit seiner ganz bewussten Ehrerbietung bewies ihr mehr als alle Worte, dass Peredur die Wahrheit gesagt hatte. Die Verräterin hatte ihren Gott niemals verraten. Alles, was sie getan hatte, war aus Liebe zu ihm geschehen.
Die Statue sah nicht nur aus, als wäre sie tatsächlich noch vorhanden, sondern fühlte sich auch so an. Anstelle eines Schwertes umklammerten ihre Hände etwas, das auf den ersten Blick an einen seltsamen Dolch erinnerte. Zu Tode erschrocken erkannte Averil, dass es weder eine Klinge war noch irgendein anderes von Menschenhand geschaffenes Ding. Es war länglich, geschwungen und blass, nicht so sehr wie ein Knochen, sondern eher wie milchiges Glas.
Gereints Stimme schien sich aus ihren eigenen Gedanken zu erheben. »Ist es das, wonach es aussieht?«
Sie nickte stumm. Ihre Kehle war wie zugeschnürt.
Sein Atem zischte. »Es muss nicht unbedingt eine Schuppe sein, oder? Es kann genauso gut ein Knochen sein. Oder ein Zahn. Jeder Teil der Schlange würde reichen.«
Averil mochte den Zahn nicht anschauen, doch sie konnte ihren Blick nicht abwenden. Er schimmerte wie eine Perle, ein lebendiger Glanz, der über die Äonen hinwegtäuschte, in denen er von seinem Körper getrennt war.
Bilder spiegelten sich darin, eine ganze Welt öffnete sich durch das
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