Das Magische Messer
fliehen zu können, und öffnete eine Tür am anderen Ende des Raumes, hinter der eine Treppe lag, die in die Eingeweide des Schiffes hinunterführte. Serafina stieg die Treppe hinab und gelangte in einen engen, von anbarischen Lampen erleuchteten Gang, an dessen Decke weiß gestrichene Rohre verliefen; er zog sich über die ganze Länge des Rumpfes hin und hatte auf beiden Seiten Türen.
Lautlos ging sie ihn entlang und lauschte, bis sie Stimmen hörte. Es klang nach einer Besprechung.
Sie machte die Tür auf und ging hinein.
Ein rundes Dutzend Personen saßen um einen großen Tisch. Einige von ihnen hoben für einen Augenblick den Kopf, starrten Serafina abwesend an und hatten sie sofort wieder vergessen. Ruhig blieb sie an der Tür stehen und sah zu. Den Vorsitz führte ein älterer Mann in der Robe eines Kardinals, die anderen schienen Geistliche der einen oder anderen Art, mit Ausnahme von Mrs. Coulter, der einzigen anwesenden Frau. Sie hatte ihren Pelz über die Stuhllehne gehängt und ihre Wangen waren von der Hitze im Bauch des Schiffes gerötet.
Serafina sah sich aufmerksam um und bemerkte noch jemand: einen Mann mit hagerem Gesicht, der an einem mit ledernen Folianten und Stapeln vergilbten Papiers beladenen Tisch saß. Sein Dæmon hatte die Gestalt eines Frosches. Zu erst hielt sie ihn für einen Protokollführer oder Sekretär, bis sie sah, was er machte: Er blickte konzentriert auf ein goldenes Instrument, ähnlich einer großen Uhr oder einem Kompass; immer wieder unterbrach er und notierte seine Beobachtungen. Dann schlug er eines der Bücher auf, suchte umständlich im Index und sah ein Stichwort nach, bevor er auch dieses niederschrieb und sich erneut auf das Instrument konzentrierte.
Serafina wandte sich wieder der Diskussion am Tisch zu, da sie das Wort Hexe gehört hatte.
»Sie weiß etwas über das Kind«, sagte einer der Geistlichen. »Sie hat gestanden, dass sie etwas weiß. Alle Hexen wissen etwas über das Kind.«
»Ich frage mich, was Mrs. Coulter weiß«, sagte der Kardinal. » Gibt es womöglich etwas, das sie uns schon früher hätte sagen sollen?«
»Ihr müsst Euch schon etwas klarer ausdrücken, Exzellenz«, sagte Mrs. Coulter kalt. »Ihr vergesst, dass ich eine Frau bin und daher nicht so scharfsinnig wie ein Kirchenfürst. Was hätte ich denn von diesem Kind wissen müssen?«
Der Kardinal sah sie bedeutungsvoll an, schwieg aber. Nach einer kurzen Pause sagte ein anderer Geistlicher fast entschuldigend: »Sehen Sie, Mrs. Coulter, es gibt da eine Prophezeiung, die das Kind betrifft. Und alle Vorzeichen sind er füllt. Zunächst, was die Umstände seiner Geburt betrifft. Auch die Gypter wissen etwas über das Mädchen – sie sprechen von ihm mit Begriffen wie Hexenöl und Sumpffeuer, was wirklich etwas unheimlich ist –, und das Mädchen hat die Gypter erfolgreich gegen Bolvangar geführt. Und dann diese ganz erstaunliche Leistung, den Bärenkönig Iofur Raknison abzusetzen – das ist kein normales Kind. Vielleicht kann uns Fra Ravel mehr dazu sagen …«
Er sah zu dem Mann mit dem hageren Gesicht hinüber, der das Alethiometer las. Der Mann zwinkerte, rieb sich die Au gen und sah Mrs. Coulter an.
»Vielleicht wissen Sie, dass dies hier das einzige erhaltene Alethiometer ist, von dem Alethiometer im Besitz des Kindes abgesehen«, sagte er. »Alle anderen wurden auf Anordnung des Magisteriums aufgekauft und zerstört. Dieses Instrument sagt mir, dass das Kind sein Alethiometer vom Rektor von Jordan College bekommen hat, dass es selbst gelernt hat, es zu lesen, und dass es dazu ohne Lehrbücher imstande ist. Wenn es möglich wäre, dem Alethiometer nicht zu glauben, würde ich das tun, denn das Instrument ohne Bücher zu lesen ist für mich ganz unvorstellbar. Es braucht Jahrzehnte intensiven Studiums, um wenigstens etwas zu verstehen. Das Mädchen schaffte es in nur wenige Wochen, das Instrument zu lesen, und beherrscht es mittlerweile fast vollkommen. Dieses Kind ist mit keinem der Gelehrten vergleichbar, die ich kenne.«
»Wo ist es jetzt, Fra Pavel?«, fragte der Kardinal.
»In der anderen Welt«, sagte Fra Pavel. »Wir haben nicht mehr viel Zeit.«
»Die Hexe weiß wo!«, sagte ein anderer Mann, dessen Dæmon, eine Bisamratte, ununterbrochen an einem Bleistift kaute. »Uns fehlt nur noch die Aussage der Hexe! Wir sollten sie wieder foltern!«
»Was ist das für eine Prophezeiung?«, wollte Mrs. Coulter wissen, die immer wütender geworden war. »Wie können
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