Das Magische Messer
sah, wie Pantalaimon in Wespengestalt benommen einen Grashalm neben ihr hochkletterte.
»Bist du verletzt?«, fragte er. »Beweg die Arme und die Beine.«
»Dummes Kind!«, sagte die Frau aus dem Auto. »Rennt einfach vor mir auf die Straße. Schaut nicht ein einziges Mal. Was soll ich da tun?«
»Bist du bei Bewusstsein?«, fragte der Lastwagenfahrer freundlich.
»Ja«, murmelte Lyra.
»Und alles in Ordnung?«
»Beweg deine Füße und Hände«, beharrte Will.
Lyra gehorchte. Gebrochen war nichts.
»Sie hat sich nichts getan«, sagte Will. »Ich kümmere mich um sie. Ihr fehlt nichts.«
»Kennst du sie?«, fragte der Lastwagenfahrer.
»Sie ist meine Schwester«, sagte Will. »Es ist alles in Ordnung. Wir wohnen gleich um die Ecke. Ich bringe sie nach Hause.«
Lyra hatte sich inzwischen hingesetzt, und da sie offenbar nicht schlimm verletzt war, wandte die Frau ihre Aufmerksamkeit wieder ihrem Auto zu. Der Verkehr schob sich an den beiden stehenden Fahrzeugen vorbei, und im Vorbeifahren sahen die Fahrer wie immer bei solchen Gelegenheiten neugierig herüber. Will half Lyra auf. Je schneller sie wegkamen, desto besser. Die Frau und der Lastwagenfahrer hatten inzwischen beschlossen, zur Beilegung ihres Streites ihre Versicherungen einzuschalten und tauschten ihre Adressen aus, als die Frau sah, wie Will die humpelnde Lyra wegführte.
»Halt!«, rief sie. »Ihr seid Zeugen. Ich brauche von euch Namen und Anschrift.«
Will drehte sich um. »Ich heiße Mark Ransom«, sagte er, »und meine Schwester Lisa. Wir wohnen in Bourne Close Nr. 26.«
»Postleitzahl?«
»Vergesse ich immer. Aber jetzt muss ich meine Schwester nach Hause bringen.«
»Steigt bei mir ein«, sagte der Lastwagenfahrer. »Ich fahre euch hin.«
»Bitte keine Umstände, wir sind schneller zu Fuß, wirklich.«
Lyra humpelte nicht stark. An Wills Hand ging sie über das Gras unter den Hainbuchen und bog um die erste Ecke, an die sie kamen.
Sie setzten sich auf ein niedriges Gartenmäuerchen.
»Hast du dich verletzt?«, fragte Will.
»Ich habe mir das Bein angeschlagen und beim Hinfallen den Kopf angehauen.«
Mehr Sorgen bereitete ihr jedoch der Inhalt des Rucksacks. Sie griff hinein, zog einen schweren, kleinen, in schwarzen Samt geschlagenen Gegenstand heraus und wickelte ihn aus. Atemlos und mit großen Augen sah Will das Alethiometer zum Vorschein kommen: das mit kleinen Symbolen bemalte Zifferblatt, die goldenen Zeiger, die suchend kreisende Nadel und das kunstvoll gearbeitete Gehäuse.
»Was ist das denn ?«, fragte er.
»Mein Alethiometer. Es liest Symbole und sagt die Wahrheit. Hoffentlich ist es nicht kaputtgegangen…«
Aber es war heil geblieben. Sogar in Lyras zitternden Händen umkreiste die lange Nadel in einem bestimmten Rhythmus das Zifferblatt. Lyra steckte es wieder ein. »Ich habe noch nie so viele Autos gesehen«, sagte sie. »Ich hätte nie gedacht, dass sie so schnell sind.«
»Gibt es in deinem Oxford keine Autos und Lastwagen?«
»Nicht so viele und keine solchen. Es kam alles so unerwartet. Aber jetzt geht es mir wieder gut.«
»Dann sei ab jetzt vorsichtig. Wenn du unter einen Bus kommst oder dich verirrst oder sonst was, merken sie, dass du nicht aus dieser Welt kommst, und suchen nach dem Fenster …«
Er war viel wütender, als notwendig gewesen wäre. Schließlich sagte er: »Also gut, pass auf. Wenn du tust, als seist du meine Schwester, ist das eine gute Tarnung für mich, denn die Person, die sie suchen, hat keine Schwester. Und wenn ich dich begleite, kann ich dir zeigen, wie man Straßen über quert, ohne dabei totgefahren zu werden.«
»Einverstanden«, sagte sie kleinlaut.
»Dann noch das Geld. Ich wette, du hast keins – woher auch. Wovon willst du denn leben und essen und so weiter?«
»Ich habe Geld«, sagte sie und schüttelte einige Goldmünzen aus ihrer Börse.
Will starrte die Münzen ungläubig an.
»Sind die aus Gold? Es ist doch Gold, oder? Da würden die Leute mit Sicherheit anfangen, Fragen zu stellen, und das wäre sehr gefährlich. Ich gebe dir Geld. Steck die Münzen weg und zeige sie niemandem. Und denk dran – du bist meine Schwester und du heißt Lisa Ransom.«
»Lizzie. Ich habe schon mal so getan, als heiße ich Lizzie. Das kann ich mir merken.«
»Also gut, Lizzie. Und ich heiße Mark. Merk dir das.«
»Mach ich«, sagte sie friedfertig.
Ihr Bein tat immer mehr weh. Dort, wo das Auto es angefahren hatte, war es bereits rot und geschwollen, und ein großer,
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