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Das Magische Messer

Das Magische Messer

Titel: Das Magische Messer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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dunkler Fleck bildete sich. Zusammen mit dem blauen Flecken auf ihrer Wange, wo Will sie die Nacht zuvor geschlagen hatte, sah sie aus, als sei sie misshandelt worden, und auch das machte ihm Sorgen: Angenommen, ein Polizist wurde neugierig?
    Er versuchte nicht daran zu denken, und sie gingen zusammen los, überquerten bei der Ampel die Straße und sahen noch einmal kurz zu dem Fenster unter den Buchen zurück. Sie konnten es nicht sehen. Es war vollkommen unsichtbar, und der Verkehr floss wieder daran vorbei.
    Sie gingen zehn Minuten die Banbury Road entlang, dann, in Summertown, blieb Will vor einer Bank stehen.
    »Was ist?«, fragte Lyra.
    »Ich hebe Geld ab. Wahrscheinlich darf ich das nicht oft tun, aber es wird bestimmt nicht vor heute Abend bemerkt.«
    Er schob die Scheckkarte seiner Mutter in den Geldautomaten und tippte ihre Geheimzahl ein. Es schien alles in Ordnung, also hob er hundert Pfund ab, die der Automat auch sofort ausgab. Lyra sah mit offenem Mund zu. Er gab ihr einen 20-Pfund-Schein. 
    »Den kannst du später verwenden«, sagte er. »Kauf irgendwas, damit du Kleingeld bekommst. Lass uns jetzt einen Bus in die Stadt suchen.«
    Lyra überließ es Will, den Bus zu finden, und saß dann stumm neben ihm und sah die Häuser und Gärten einer Stadt vorübergleiten, die die ihre und zugleich nicht die ihre war. Es war, als befinde sie sich im Traum eines anderen. Sie stiegen in der Stadtmitte neben einer alten, steinernen Kirche aus. Die Kirche kannte sie, das große Kaufhaus gegenüber nicht.
    »Es ist alles verändert«, sagte sie, »als ob … Ist das nicht Cornmarket Street? Und das ist Broad Street. Hier ist Balliol. Und da hinten Bodley’s Library. Aber wo ist Jordan?«
    Jetzt zitterte sie heftig, entweder als verspätete Reaktion auf den Unfall oder aus Schreck und Enttäuschung darüber, an der Stelle des heimatlich vertrauten Jordan College ein ganz anderes Gebäude anzutreffen.
    »Da stimmt etwas nicht«, sagte sie. Sie sprach leise, weil Will gesagt hatte, sie dürfe nicht immer laut rufen, wenn sie etwas vermisste. »Das ist ein anderes Oxford.«
    »Aber das war doch klar«, sagte er.
    Er war auf Lyras völlige Hilflosigkeit nicht vorbereitet. Er konnte nicht wissen, wie oft sie in ihrer Kindheit durch Straßen gelaufen war, die mit diesen fast identisch waren, und wie stolz sie auf ihre Zugehörigkeit zu Jordan College gewesen war, von allen Colleges das reichste und das mit den klügsten Wissenschaftlern und den schönsten Gebäuden. Und jetzt war es einfach nicht mehr da, und sie war nicht mehr die Lyra von Jordan College; sie war ein Mädchen, das sich in einer merkwürdigen Welt verirrt hatte und nirgendwo hingehörte.
    »Na ja«, sagte sie zittrig, »wenn es nicht da ist …«
    Dann würde ihre Suche eben länger dauern, als sie gedacht hatte, das war alles.

Trepanierte Schädel
     
     

    Sobald Lyra ihrer Wege gezogen war, betrat Will eine Telefonzelle und wählte die Nummer der Anwaltskanzlei, die auf dem Brief stand, den er in der Tasche hatte.
    »Hallo? Ich möchte bitte mit Mr. Perkins sprechen.« »Wer ist da?«
    »Es geht um Mr. John Parry. Ich bin sein Sohn.«
    »Augenblick, bitte …«
    Nach einer Weile meldete sich die Stimme eines Mannes:
    »Hallo, hier Alan Perkins. Mit wem spreche ich?«
    »William Parry. Entschuldigen Sie die Störung. Ich rufe wegen meines Vaters an. Sie überweisen doch alle drei Monate Geld von meinem Vater auf das Konto meiner Mutter.« »Richtig …«
    »Gut, und ich möchte bitte wissen, wo mein Vater ist. Lebt er oder ist er tot?«
    »Wie alt bist du denn, William?«
    »Zwölf. Ich möchte wissen, wo er ist.«
    »Hm … Hat deine Mutter … ist sie … weiß sie, dass du mich anrufst?«
    Will überlegte.
    »Nein«, sagte er. »Aber es geht ihr gesundheitlich nicht gut.
    Sie kann mir nicht viel sagen, aber ich will es wissen.« »Ja, verstehe. Wo bist du jetzt? Zu Hause?«
    »Nein, ich … ich bin in Oxford.«
    »Ganz allein?«
    »Ja.«
    »Und deiner Mutter geht es nicht gut, sagst du?«
    »Nein.«
    »Ist sie im Krankenhaus?«
    »So ähnlich. Können Sie es mir jetzt sagen oder nicht?« »Hm, ich kann dir etwas sagen, aber nicht viel und nicht jetzt gleich, und ich würde es lieber nicht übers Telefon tun. In fünf Minuten kommt ein Klient… Kannst du um halb drei in mein Büro kommen?«
    »Nein«, sagte Will. Das war zu riskant. Vielleicht wusste  der Anwalt dann bereits schon, dass die Polizei ihn suchte. Er dachte schnell nach und sagte

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