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Das Magische Messer

Das Magische Messer

Titel: Das Magische Messer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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und wandte sich den Kindern zu. »Warum tut ihr dieser Katze weh?«, fragte er. Die Kinder antworteten nicht. Sie duckten sich vor Wills Zorn, atmeten schwer, umklammerten ihre Stöcke und Steine und konnten nicht sprechen.
    Doch dann ertönte laut und deutlich Angelicas Stimme: »Ihr seid nicht von hier! Ihr seid nicht von Ci’gazze! Ihr wusstet nichts von Gespenstern, und ihr wisst auch nichts von Katzen. Ihr seid nicht wie wir!«
    Der Junge in dem gestreiften T-Shirt, den Will zu Boden geworfen hatte, brannte darauf, sich mit ihm zu schlagen, und wenn nicht die Katze in Wills Armen gewesen wäre, hätte er sich mit Fäusten, Zähnen und Füßen auf Will gestürzt, und Will hätte seine Schläge nur zu gern erwidert. Der Hass zwischen den beiden war so groß, dass er sich nur in Gewalt entladen konnte. Doch der Junge hatte Angst vor der Katze. 
    »Wo kommt ihr her?«, sagte er verächtlich.
    »Das ist egal. Wenn ihr Angst vor dieser Katze habt, nehme ich sie mit. Wenn sie euch Unglück bringt, bringt sie uns Glück. Und jetzt verschwindet.«
    Einen Augenblick glaubte Will, ihr Hass würde stärker sein als ihre Angst, und er war darauf gefasst, die Katze abzusetzen und zu kämpfen, doch dann ertönte von hinten ein tiefes Grollen, und als die Kinder sich umdrehten, stand da Lyra, die Hand auf der Schulter eines großen, gefleckten Leoparden, dessen gefletschte Zähne weiß blitzten. Sogar Will, der Pantalaimon erkannte, erschrak einen Augenblick. Die Wirkung auf die Kinder war dramatisch: Sie rannten weg, so schnell sie konnten. Im nächsten Moment war der Platz leer. 
    Bevor auch sie gingen, sah Lyra zu dem Turm hoch. Ein Knurren Pantalaimons hatte sie dazu veranlasst, und einen kurzen Moment lang sah sie jemanden von ganz oben über den Zinnen bewehrten Rand heruntersehen, kein Kind, sondern einen jungen Mann mit gelockten Haaren.
     
     
    Eine halbe Stunde später waren Will und Lyra wieder in der Wohnung über dem Cafe. Will hatte eine Dose Kondensmilch aufgetrieben, die Katze schlabberte sie hungrig auf und begann dann ihre Wunden zu lecken. Pantalaimon hatte aus Neugier ebenfalls die Gestalt einer Katze angenommen. Die Katze hatte zunächst misstrauisch ihr Fell gesträubt, doch bald gemerkt, dass Pantalaimon, wer immer er sein mochte, weder eine wirkliche Katze war noch eine Bedrohung; jetzt beachtete sie ihn nicht mehr.
    Lyra beobachtete fasziniert, wie Will die Katze versorgte. Die einzigen Tiere, mit denen sie in ihrer Welt näheren Kontakt gehabt hatte (von Panzerbären einmal abgesehen), waren Nutztiere verschiedenster Art gewesen. Katzen hatten dafür gesorgt, dass es in Jordan College keine Mäuse gab, sie waren keine Schoßtiere gewesen.
    »Ich glaube, ihr Schwanz ist gebrochen«, sagte Will. »Ich weiß nicht, was man da tut. Vielleicht heilt er von selbst wieder. Auf das Ohr streiche ich Honig, das habe ich irgendwo gelesen; er desinfiziert…«
    Es war eine ziemliche Schmiererei, aber wenigstens war die Katze damit beschäftigt, den Honig abzulecken, und dadurch wurde die Wunde immer sauberer.
    »Bist du sicher, dass du diese Katze gesehen hast?«, fragte Lyra.
    »Ja, bestimmt. Wenn die Kinder solche Angst vor Katzen haben, gibt es in dieser Welt sowieso keine. Wahrscheinlich hat sie nicht mehr zurückgefunden.«
    »Die Kinder waren richtig durchgedreht«, sagte Lyra. »Sie hätten sie umgebracht. Ich habe noch nie Kinder in einem solchen Zustand gesehen.«
    »Ich schon«, sagte Will.
    Aber sein Gesicht hatte einen verschlossenen Ausdruck angenommen; er wollte nicht darüber reden, und Lyra
    wusste, dass sie nicht fragen durfte. Sie wusste, dass sie auch das Alethiometer nicht fragen würde.
    Sie war sehr müde, deshalb ging sie schon bald zu Bett und schlief sofort ein.
     
     
    Ein wenig später, nachdem auch die Katze sich zum Schlafen zusammengerollt hatte, setzte sich Will mit einer Tasse Kaffee und der grünledernen Mappe auf den Balkon. Durch das Fenster kam genug Licht zum Lesen, und er wollte sich die Papiere ansehen.
    Es waren nicht viele. Wie er vermutet hatte, handelte es sich um Briefe, geschrieben mit schwarzer Tinte auf Luftpostpapier. Diese Buchstaben also stammten von der Hand des Mannes, den er so sehnlich zu finden hoffte. Mit den Fingern strich Will immer wieder über die Briefe und drückte sie an sein Gesicht, um dem Geheimnis seines Vaters möglichst nahe zu sein. Dann begann er zu lesen.
     
     
    Fairbanks, Alaska
    Mittwoch, 19. Juni 1985
     
    Liebling – die üblich

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