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Das Magische Messer

Das Magische Messer

Titel: Das Magische Messer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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hat einen Bart, deine Oma, und ist eine Ziege.«
    »Was ist die Zunft?«, beharrte Lyra.
    »Du kennst doch den Torre degli Angeli«, sagte ein Junge, »den steinernen Turm, ja? Also, der gehört der Zunft, und drinnen ist ein geheimer Ort. Die Zunft, das sind Männer, die alles Mögliche wissen. Philosophie, Alchemie, alles Mögliche eben. Und sie haben die Gespenster reingelassen.«
    »Stimmt nicht«, sagte ein anderer Junge. »Sie kamen von den Sternen.«
    »Stimmt doch! Es war nämlich so: Ein Mann aus dieser Zunft hat vor vielen hundert Jahren ein Stück Metall geteilt. Blei. Er wollte daraus Gold machen. Er teilte es in immer kleinere Stücke, bis er beim kleinsten Stück angelangt war, beim kleinsten Stück, das man sich überhaupt vorstellen kann, so klein, das man es nicht einmal sehen kann. Aber er teilte das auch noch, und in diesem kleinsten Stück waren die ganzen Gespenster, so dicht zusammengefaltet, dass sie überhaupt keinen Platz brauchten. Aber als der Mann es aufschnitt, wusch!, sausten sie raus, und seitdem gibt es sie hier. Das hat mein Papa gesagt.« 
    »Sind jetzt auch noch Leute von der Zunft im Turm?«, fragte Lyra.
    »Nein, jetzt ist niemand mehr drin«, sagte ein Junge. »Dort spukt es. Deshalb kam auch die Katze da raus. Wir gehen nicht rein. Kein Kind tut das. Es ist gruselig.«
    »Die Leute von der Zunft haben keine Angst reinzugehen«, sagte ein anderer Junge.
    »Sie haben einen speziellen Zauberspruch oder so was«, sagte das Mädchen. »Sie sind habgierig und sie leben von den Armen. Die Armen tun die Arbeit und die Zunftleute wohnen ganz umsonst da.«
    »Aber jetzt ist niemand im Turm?«, fragte Lyra. »Keine Erwachsenen?«
    »In der ganzen Stadt sind keine Erwachsenen!«
    »Die würden sich das doch nie trauen.«
    Aber Lyra hatte oben im Turm einen jungen Mann gesehen, das wusste sie ganz sicher. Und irgendetwas an der Geschichte der Kinder machte sie misstrauisch; als geübte Lügnerin merkte sie, wenn andere logen, und die Kinder sagten nicht die Wahrheit.
    Und dann fiel es ihr plötzlich ein: Der kleine Paolo hatte gesagt, dass er und Angelica einen älteren Bruder, Tullio, hätten, der ebenfalls in der Stadt sei, und Angelica hatte ihn sofort unterbrochen … War der junge Mann, den sie gesehen hatte, vielleicht dieser Bruder?
    Die Kinder kümmerten sich um ihre Boote und Lyra ging hinein, um Kaffee zu machen und nachzusehen, ob Will schon wach war. Doch er schlief noch, die Katze zu seinen Füßen zusammengerollt. Da Lyra es nicht erwarten konnte, die Wissenschaftlerin wiederzusehen, schrieb sie ihm eine kurze Nachricht, legte sie auf den Boden neben seinem Bett, holte ihren Rucksack und marschierte los, um das Fenster zu suchen. 
    Auf dem Weg überquerte sie den kleinen Platz, über den sie in der Nacht zuvor auch gekommen waren. Jetzt war er leer, und die Sonne beschien die Fassade des alten Turms und die verwitterten Skulpturen neben dem Eingang, menschenähnliche Gestalten mit zusammengefalteten Flügeln. Zwar hatten Wind und Regen den Gesichtern im Lauf der Jahrhunderte stark zugesetzt, doch strahlten sie in ihrer stummen Ruhe immer noch Kraft, Mitgefühl und Weisheit aus. 
    »Engel«, sagte Pantalaimon, eine Grille auf ihrer Schulter. 
    »Oder vielleicht Gespenster«, meinte Lyra.
    »Nein! Die Kinder nannten den Turm irgendwas mit angeli«, beharrte er. »Ich wette, das sind Engel.«
    »Sollen wir reingehen?«
    Sie sahen zu der großen Eichentür mit den schwarzen, reich verzierten Scharnieren hinauf. Das halbe Dutzend Stu  fen, das zu ihr führte, war stark ausgetreten, die Tür war an  gelehnt. Nichts konnte Lyra davon abhalten, hineinzugehen, höchstens ihre eigene Angst.
    Auf Zehenspitzen schlich sie die Stufen hinauf und lugte durch den Spalt. Dahinter sah sie nur eine mit Steinfliesen ausgelegte Halle, und auch diese nur zum Teil. Pantalaimon flatterte so aufgeregt auf ihrer Schulter, wie er es damals getan hatte, als sie den Schädeln in der Krypta von Jordan College einen Streich gespielt hatten, und inzwischen war Lyra klüger geworden. Das hier war ein böser Ort. Sie rannte die Treppe hinunter und über den Platz in die helle Sonne des palmengesäumten Boulevards. Sie vergewisserte sich, dass niemand zusah, dann schlüpfte sie ohne zu zögern durch das Fenster und betrat Wills Oxford.
     
     
    Vierzig Minuten später stand sie wieder im Gebäude des physikalischen Instituts und stritt mit dem Pförtner. Diesmal hatte sie allerdings einen Trumpf in der

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