Das Magische Messer
sie, »oder Beobachter oder bene elim. Wohin seid Ihr unterwegs?«
»Wir folgen einem Ruf.«
Ruta Skadi war nicht sicher, welcher Engel gesprochen hatte. Es hätte irgendeiner sein können oder alle zugleich.
»Wessen Ruf?«
»Dem Ruf eines Mannes.«
»Lord Asriels?«
»Vielleicht.«
»Und warum?«
»Weil wir es wollen«, kam die Antwort.
»Dann führt mich zu ihm, wo immer er ist«, befahl sie.
Ruta Skadi war vierhundert-und-sechzehn Jahre alt und er füllt vom Stolz und dem Wissen einer erwachsenen Hexenkönigin. Sie war viel klüger als jeder Mensch in seinem kurzen Leben werden konnte, doch hatte sie nicht die leiseste Ahnung, dass sie neben diesen uralten Wesen wie ein kleines Kind wirkte. Genauso wenig wusste sie, dass das Bewusstsein der Engel unendlich weit über ihren Horizont hinausreichte und mit seinen feinen Verästelungen in die entferntesten Winkel des Universums reichte, von denen sie noch nicht einmal träumte, und dass sie ihr nur deshalb menschenähnlich erschienen, weil ihre Augen nichts anderes sehen konnten. Wenn sie ihre wirkliche Gestalt wahrgenommen hätte, wären sie ihr mehr wie Architektur als wie Organismen vor gekommen, wie gewaltige, intelligente und fühlende Strukturen.
Aber die Engel erwarteten nichts anderes: Die Hexe war noch sehr jung.
Sogleich schlugen sie mit ihren Schwingen und flogen voran, und Ruta Skadi sauste hinterher, mitgerissen vom Luft sog ihrer gewaltigen Schwingen und begeistert über die Geschwindigkeit und Kraft, die ihr das verlieh.
Sie flogen die ganze Nacht. Über ihnen wanderten die Sterne über den Himmel, um dann, als im Osten die Dämmerung sich bemerkbar machte, zu verblassen und zu verschwinden. Dann schob sich die Sonne über den Horizont und ließ die Welt in leuchtenden Farben erstrahlen, und sie flogen durch blauen Himmel und klare Luft, die frisch war und mild und feucht.
Bei Tageslicht waren die Engel weniger gut zu sehen, ob wohl ihre Eigenart immer noch jedem Auge auffallen musste. Das Licht, in dem Ruta Skadi sie sah, war immer noch nicht das der jetzt allmählich höher steigenden Sonne, sondern kam aus einer anderen Quelle.
Unermüdlich flogen sie weiter und unermüdlich flog Ruta Skadi hinter ihnen her. Sie empfand eine wilde Freude darüber, dass sie über diese unsterblichen Wesen gebieten konnte. Wohlig streckte sie sich, genoss das Gefühl der rauhen Kiefernrinde auf ihrer Haut, schwelgte im Schlag ihres Herzens, den Empfindungen ihrer Sinne und dem Hunger, den sie jetzt hatte, und freute sich an der Gegenwart ihres zwitschernden Blaukehlchendæmons, an der Erde unter sich und am Leben aller Geschöpfe, Pflanzen wie Tiere; Freude erfüllte sie, aus demselben Stoff zu bestehen wie diese und zu wissen, dass ihr Fleisch nach ihrem Tod anderem Leben als Nahrung dienen würde, so wie anderes Leben sie genährt hatte. Und sie freute sich auch darüber, dass sie Lord Asriel wiedersehen würde.
Wieder wurde es Nacht und immer noch flogen die Engel weiter. Und dann änderte sich plötzlich die Beschaffenheit der Luft. Sie wurde nicht besser oder schlechter, sie war einfach anders, und Ruta Skadi wusste, dass sie diese Welt verlassen hatten und in eine andere übergewechselt waren. Wie das freilich passiert war, wusste sie nicht.
»Engel!«, rief sie, als sie den Wechsel bemerkte. »Wie haben wir die Welt verlassen, in der ich Euch begegnet bin? Wo war die Grenze?«
»Es gibt unsichtbare Orte in der Luft«, kam die Antwort, »Tore in andere Welten. Wir können sie sehen, aber du nicht.«
Ruta Skadi hatte den unsichtbaren Durchgang nicht sehen können, aber das brauchte sie auch gar nicht; Hexen fanden sich in der Luft besser zurecht als Vögel. Als der Engel sprach, konzentrierte sie ihre Aufmerksamkeit sofort auf drei gezackte Felsgipfel unter ihr und prägte sich deren Konstellation genau ein. Im Bedarfsfall würde sie sie wiederfinden, egal was die Engel glaubten.
Sie flogen weiter, und wenig später ertönte wieder die Stimme eines Engels: »Lord Asriel hält sich in dieser Welt auf, und hier liegt die Burg, die er baut.«
Sie waren langsamer geworden und kreisten wie Adler in mittlerer Höhe. Ruta Skadis Blick folgte dem ausgestreckten Arm eines Engels. Im Osten machte sich der erste schwache Schein der Dämmerung bemerkbar, und über ihnen leuchteten noch in unverminderter Helligkeit die Sterne vor dem samtigen Schwarz des Himmels. Und am äußersten Horizont dieser Welt, dort, wo es jetzt rasch heller wurde, ragte
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