Das Magische Messer
ein gewaltiges Gebirge auf – spitze Zacken aus schwarzem Felsgestein, mächtige, zerborstene Platten und gezähnte Kämme, in einem Durcheinander aufgetürmt wie das Wrack einer kos mischen Katastrophe. Auf dem höchsten Punkt, der jetzt, als sie hinsah, von den ersten Strahlen der Morgensonne erfasst wurde, stand ein von Menschenhand geschaffenes Gebilde, eine gewaltige Festung mit Zinnen aus Basaltplatten so hoch wie Berge, eine Festung, deren Ausdehnung nur in Flugzeit zu messen war.
Am Fuß dieser kolossalen Anlage loderten im Dunkel der anbrechenden Morgendämmerung Feuer und rauchten Schmelzöfen, und Ruta Skadi hörte kilometerweit Hammerschläge und das Stampfen großer Mühlen. Und sie sah aus allen Richtungen Gruppen von Engeln herbeieilen, und nicht nur Engel, auch Maschinen, Fahrzeuge mit stählernen Flügeln, die wie Albatrosse durch die Luft glitten, gläserne Kabinen unter kreisenden Libellenflügeln, dröhnende Zeppeline wie gigantische Hummeln – alle auf dem Weg zu der Festung, die Lord Asriel auf dem Gebirge am Rand der Welt er baute.
»Und Lord Asriel ist da?«, fragte sie.
»So ist es«, erwiderten die Engel.
»Dann lasst uns gleich zu ihm fliegen. Und ihr seid mein Ehrengeleit.«
Gehorsam breiteten die Engel ihre Flügel aus und nahmen Kurs auf die in goldenes Licht getauchte Festung. Ihnen voraus flog erwartungsvoll die Hexe.
Der Rolls-Royce
Lyra wachte früh auf. Es war ein ruhiger und warmer Morgen, und es schien, als ob es in der Stadt nie etwas anderes geben würde als diesen friedlichen Sommer. Sie schlüpfte aus dem Bett und lief die Treppe hinunter, und als sie vom Wasser her Kinderstimmen hörte, lief sie neugierig hin.
Drei Jungen und ein Mädchen fuhren spritzend in zwei Tretbooten durch den sonnenbeschienenen Hafen und auf die Ufertreppe zu. Als sie Lyra sahen, verlangsamten sie kurz die Fahrt, doch sofort vertieften sie sich wieder in ihren Wettkampf. Die Sieger krachten mit solcher Wucht auf die Stufen, dass einer von ihnen ins Wasser fiel. Als er versuchte in das andere Boot zu klettern, kippte auch dieses um, und alle plantschten übermütig durch das Wasser, als hätte es die Angst vom Vorabend nie gegeben. Sie waren jünger als die meisten anderen Kinder vom Turm, dachte Lyra. Sie gesellte sich zu ihnen ins Wasser. Pantalaimon glitt als kleiner silberglänzender Fisch neben ihr durch die Wellen. Es war Lyra noch nie schwer gefallen, mit anderen Kindern ins Gespräch zu kommen, und bald saßen die Kinder in Wasserpfützen auf den warmen Steinen um Lyra herum, während ihre Hemden rasch in der Sonne trockneten. Nur der arme Pantalaimon musste, diesmal in Gestalt eines Frosches, wieder in Lyras feuchtkalte Brusttasche klettern. »Was macht ihr denn mit der Katze?«
»Könnt ihr wirklich das Unglück vertreiben?«
»Wo kommt ihr her?«
»Hat dein Freund keine Angst vor Gespenstern?«
»Will hat vor nichts Angst«, sagte Lyra, »und ich auch nicht. Warum habt ihr Angst vor Katzen?«
»Das weißt du nicht?«, fragte der älteste Junge ungläubig.
»Katzen haben doch den Teufel in sich. Man muss jede Katze töten, die man sieht. Die beißen dich und dann bist du vom Teufel besessen. Und was tust du mit dem großen Leoparden?« Er hatte Pantalaimon in Gestalt eines Leoparden gesehen, aber Lyra, schüttelte unschuldig den Kopf.
»Du musst geträumt haben«, sagte sie. »Im Mondlicht sieht alles anders aus. Aber wo ich und Will herkommen, da gibt es keine Gespenster, deshalb wissen wir nichts darüber.«
»Wenn ihr sie nicht sehen könnt, seid ihr sicher«, sagte ein Junge. »Sobald ihr sie seht, wisst ihr, dass sie euch kriegen können. Das sagte mein Papa, und dann haben sie ihn er wischt. Er hatte sie nicht bemerkt.«
»Und sie schwirren jetzt um uns herum?«
»Ja«, sagte das Mädchen. Sie streckte die Hand aus, griff in die Luft und rief: »Da habe ich eins!«
»Sie können uns nichts tun«, sagte einer der Jungen, »des halb können wir ihnen auch nichts tun.«
»Und gibt es die Gespenster hier schon immer?«, fragte Lyra. Ein Junge nickte, aber ein anderer schüttelte den Kopf: »Nein, sie kamen vor langer Zeit hierher. Vor vielen hundert Jahren.«
»Sie kamen wegen der Zunft«, sagte der dritte Junge. »Der was?«, fragte Lyra.
»Stimmt ja gar nicht!«, sagte das Mädchen. »Meine Oma sagt, sie kamen, weil die Menschen schlecht waren und Gott sie schickte, um uns zu bestrafen.«
»Deine Oma hat doch keine Ahnung«, sagte ein Junge. »Sie
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