Das Magische Messer
keine Skrupel mehr, sich Sachen aus Läden zu holen. Will suchte sich also neue Kleider und Schuhe aus, und Lyra, die unbedingt helfen wollte, passte auf, dass keine anderen Kinder in Sicht waren, und trug die Kleider dann ins Cafe zurück.
Dann machte sie Wasser heiß, und Will trug es ins Bad hinauf und zog sich aus, um sich zu waschen. Die Schmerzen pochten dumpf und erbarmungslos, aber wenigstens waren es saubere Schnitte, und seit er gesehen hatte, was das Messer vermochte, wusste er, dass sie nicht sauberer hätten sein können. Allerdings bluteten die Stellen, wo seine Finger gewesen waren, heftig. Wenn er sie ansah, wurde ihm immer noch übel, und sein Herz schlug schneller, und das wiederum schien das Bluten noch schlimmer zu machen. Er setzte sich auf den Rand der Badewanne, schloss die Augen und atmete ein paar Mal tief durch.
Nach einer Weile hatte er sich wieder etwas beruhigt und begann sich zu waschen, so gut er konnte. Dann trocknete er sich mit einem Handtuch ab, das schon bald blutbefleckt war, und zog seine neuen Kleider an, möglichst ohne sie auch gleich blutig zu machen.
»Du musst mir einen neuen Verband machen«, sagte er zu Lyra. »Du kannst ihn so fest anziehen, wie du willst, wenn das Bluten dafür aufhört.«
Lyra riss ein Leintuch in Streifen und wickelte diese so fest sie konnte um die Wunde. Will biss die Zähne zusammen, aber trotzdem traten ihm Tränen in die Augen. Er wischte sie wortlos weg und auch Lyra schwieg.
Als sie fertig war, sagte er: »Danke.« Dann sagte er: »Hör zu, ich möchte, dass du für mich etwas in deinen Rucksack steckst, für den Fall, dass wir nicht hierher zurückkehren. Es sind nur Briefe. Wenn du willst, kannst du sie lesen.«
Er holte die grüne Ledermappe und gab ihr die Briefe. »Ich lese sie nicht, wenn –«
»Es macht mir nichts aus, sonst hätte ich es nicht gesagt.« Sie faltete die Briefe auseinander, und er legte sich aufs
Bett, schob die Katze zur Seite und schlief ein.
Später, es war bereits Nacht, standen Will und Lyra geduckt in der kleinen, von Bäumen gesäumten Nebenstraße, die an Sir Charles’ Garten vorbeiführte. In der Welt von Cittàgazze hatten sie auf dem Rasen vor einer klassizistischen Villa gestanden, die weiß im Mondlicht schimmerte. Sie hatten lange gebraucht, um zu Sir Charles’ Haus zu gelangen, da sie die Strecke überwiegend in Cittàgazze zurücklegten und immer wieder anhielten, ein Fenster öffneten und ihren Standort in Wills Welt überprüften, um anschließend, sobald sie wussten, wo sie waren, das Fenster wieder zu schließen.
Die getigerte Katze folgte ihnen in einiger Entfernung. Sie hatte geschlafen, seit Will und Lyra sie vor den Steine werfen den Kindern gerettet hatten, und jetzt wich sie ihnen nicht von den Fersen, als sei sie nur in ihrer Gesellschaft sicher. Will war davon keineswegs überzeugt, hatte aber auch ohne die Katze genug Sorgen und beachtete sie deshalb nicht weiter. Inzwischen wurde er mit dem Messer immer vertrauter und sicherer in seiner Handhabung, doch seine Wunde schmerzte mehr als zuvor, ein unaufhörliches, dumpfes Pochen, und der frische Verband, den Lyra ihm nach dem Aufwachen angelegt hatte, war schon wieder blutgetränkt.
Er schnitt in der Nähe der weißen Villa ein Fenster in die Luft, und sie traten auf eine ruhige Nebenstraße in Headington, um zu überlegen, wie sie von dort in das Arbeitszimmer gelangen konnten, in dem Sir Charles das Alethiometer aufbewahrte. Der Garten vor dem Haus wurde von zwei Scheinwerfern beleuchtet und in den Fenstern brannte Licht. Das Fenster des Arbeitszimmers dagegen war dunkel und auf dieser Seite des Hauses schien nur der Mond.
Die Straße führte unter Bäumen zu einer größeren Straße am anderen Ende des Gartens, und auch sie war nicht beleuchtet. Es wäre für einen ganz gewöhnlichen Einbrecher ein Leichtes gewesen, unbemerkt durch die Büsche in den seitlichen Teil des Gartens zu gelangen, doch lief ein starker Eisenzaun um das Grundstück, doppelt so hoch wie Will und mit scharfen Spitzen versehen. Für das Magische Messer freilich bedeutete er kein Hindernis.
»Halte die Stange, während ich schneide«, flüsterte Will. »Fang sie auf, wenn sie fällt.«
Lyra tat, was er sagte, und er schnitt insgesamt vier Stangen heraus, bis die Lücke so groß war, dass sie ohne Schwierigkeiten durchsteigen konnten. Lyra legte sie eine nach der anderen auf das Gras, dann schlüpften sie durch und krochen in die Büsche.
Weitere Kostenlose Bücher