Das Magische Messer
nicht, wie sie hergekommen ist, aber wenn sie mich sieht, bin ich tot, Will, dann ist alles aus – und jetzt weiß ich auch, wer er ist! Ich weiß, wo ich ihn schon gesehen habe, Will! Er heißt Lord Boreal! Ich habe ihn auf Mrs. Coulters Cocktailparty kennen gelernt, von der ich wegrannte! Und er muss die ganze Zeit gewusst haben, wer ich bin …«
»Pst! Du kannst nicht hier bleiben, wenn du so laut bist.«
Sie riss sich zusammen, schluckte hart und schüttelte den Kopf.
»Entschuldigung«, flüsterte sie, »ich will bei dir bleiben und hören, was sie sagen.«
»Still jetzt …«
Er hörte Stimmen im Flur. Will und Lyra waren einander so nah, dass sie sich berühren konnten, er in seiner Welt, sie in Cittàgazze, und als Lyra sah, dass Wills Verband lose herunterhing, berührte sie ihn am Arm und gab ihm stumm zu verstehen, sie wolle ihn wieder festmachen. Er streckte die Hand aus, während er mit seitwärts gewandtem Kopf angestrengt lauschte.
Im Zimmer ging Licht an. Er hörte, wie Sir Charles mit dem Diener sprach, ihn entließ, in das Zimmer kam und die Tür hinter sich schloss.
»Darf ich dir ein Glas Tokaier anbieten?«, fragte er.
»Wie nett von dir, Carlo«, antwortete die tiefe, angenehme Stimme einer Frau. »Ich habe jahrelang keinen Tokaier mehr getrunken.«
»Nimm doch am Kamin Platz.«
Man hörte ein leises Gluckern, als der Wein eingeschenkt wurde, das Klirren einer Karaffe am Rand eines Glases, ein leise gemurmeltes Danke, und dann setzte Sir Charles sich direkt vor Will auf das Sofa.
»Auf dein Wohl, Marisa«, sagte er und nippte an seinem Glas. »Und jetzt sage mir, was du willst.«
»Ich will wissen, wo du das Alethiometer hast.«
»Warum?«
»Weil Lyra es hatte und ich sie suche.«
»Warum denn? Sie ist ein abstoßendes Gör.«
»Ich darf dich daran erinnern, dass sie meine Tochter ist.«
»Das macht sie nur noch abstoßender, denn dann muss sie deinem Charme absichtlich widerstanden haben, dem sonst jeder erliegt.«
»Wo ist sie?«
»Ich sage es dir, ich verspreche es, aber zuerst musst du mir etwas anderes sagen.«
»Wenn ich kann.« Ihre Stimme hatte sich geändert, und Will meinte einen warnenden Unterton herauszuhören. Die Stimme hatte einen berauschenden Klang, beruhigend, süß, melodisch und jung zugleich. Will hätte zu gern gewusst, wie Mrs. Coulter aussah, denn Lyra hatte sie nie beschrieben und ein Gesicht, das zu dieser Stimme gehörte, musste ungewöhnlich sein. »Was willst du denn wissen?«
»Was hat Asriel vor?«
Die Frau schwieg, als überlege sie genau, was sie antworten sollte. Durch das Fenster sah Will Lyras Gesicht mit vor Angst weit aufgerissenen Augen, doch sie presste die Lippen zusammen, um sich nicht zu verraten, und lauschte wie er gespannt.
»Also gut«, sagte Mrs. Coulter schließlich, »ich sage es dir. Lord Asriel versammelt eine Armee, um den Krieg zu Ende zu führen, der vor Äonen im Himmel ausgetragen wurde.«
»Wie mittelalterlich. Doch scheint er über einige sehr moderne Mittel zu verfügen. Was hat er mit dem magnetischen Pol gemacht?«
»Er hat einen Weg gefunden, die Grenze zwischen unserer Welt und anderen Welten gewaltsam zu öffnen. Das hat das Magnetfeld der Erde vollkommen durcheinander gebracht, was sich natürlich auch in dieser Welt auswirkt … Aber wo her weißt du überhaupt davon, Carlo? Ich finde, jetzt solltest du mir einige Fragen beantworten. In was für einer Welt bin ich hier? Und wie hast du mich hergebracht?«
»Diese Welt ist nur eine von Millionen. Zwischen den Welten gibt es Öffnungen, die aber nicht leicht zu finden sind. Ich kenne ein Dutzend, aber die Orte, zu denen sie führen, haben sich verschoben, und der Grund dafür muss das sein, was Asriel getan hat. Offenbar können wir jetzt auf direktem Wege von dieser Welt in unsere und wahrscheinlich noch viele andere gelangen. Bisher diente eine Welt als eine Art Kreuzung, in die alle Durchgänge mündeten. Du kannst dir also vorstellen, wie überrascht ich war dich zu sehen, als ich heute durch eine solche Öffnung ging, und wie entzückt, dass ich dich direkt hier herbringen konnte, ohne den riskanten Umweg über Cittàgazze.«
»Cittàgazze? Was ist denn das?«
»Die Kreuzung. Eine Welt, die mich sehr interessiert, meine liebe Marisa, in der es gegenwärtig aber für uns zu gefährlich ist.«
»Warum gefährlich?«
»Gefährlich für Erwachsene. Kindern passiert dort nichts.«
»Wie? Das muss ich genau wissen, Carlo«, sagte die Frau, und
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