Das Magische Messer
Glasschrank? Er musste auch dieses Fenster schließen, drehte sich wieder und versuchte es noch einmal. Kostbare Zeit verstrich.
Das dritte Mal hatte er mehr Glück: In dem dämmrigen Licht, das durch die offene Tür zum Flur fiel, sah er das ganze Zimmer vor sich, den Schreibtisch, das Sofa und den Schrank! Die Rundungen eines Mikroskops schimmerten schwach durch das Dunkel. Niemand war im Zimmer, und das ganze Haus war ruhig. Er hätte es nicht besser treffen können.
Er schätzte die Entfernung sorgfältig ab, schloss das Fenster, ging vier Schritte nach vorn und hielt das Messer wieder hoch. Wenn er richtig geschätzt hatte, stand er jetzt genau an der richtigen Stelle, um den Arm durch das Fenster zu strecken, das Glas des Schrankes durchzuschneiden, das Alethiometer he rauszunehmen und das Fenster wieder hinter sich zu schließen.
Er schnitt ein Fenster in der entsprechenden Höhe. Das Glas der Schranktür war nur eine Handbreit von ihm entfernt. Er ging mit dem Gesicht ganz nah heran und suchte aufmerksam von oben nach unten die Regalbretter ab.
Das Alethiometer war weg.
Zuerst dachte Will, er hätte sich im Schrank geirrt. Es befanden sich vier Schränke im Zimmer – er hatte sie am Morgen gezählt und sich ihren Standort eingeprägt – hohe, rechteckige Kästen aus dunklem Holz mit gläsernen Seiten und Fronten und samtbezogenen Regalbrettern, um wertvolle Gegenstände aus Porzellan, Elfenbein oder Gold auszustellen. Konnte es sein, dass er das Fenster nur vor dem falschen Schrank geöffnet hatte? Aber auf dem obersten Brett lag dasselbe massige Instrument mit den Messingringen, das er sich eigens gemerkt hatte. Und auf dem mittleren Brett war genau dort eine leere Stelle, wo Sir Charles das Alethiometer hingelegt hatte. Es war der richtige Schrank, aber das Alethiometer war verschwunden.
Will trat zurück und holte tief Luft.
Er würde das ganze Zimmer gründlich durchsuchen müssen. Doch wahllos hier und da Fenster zu öffnen hätte die ganze Nacht gedauert. Er schloss das Fenster vor dem Schrank, öffnete ein anderes, um sich das restliche Zimmer anzusehen, und als er sich alles sorgfältig angesehen hatte, schloss er auch dieses Fenster und öffnete ein größeres hinter dem Sofa, durch das er notfalls schnell verschwinden konnte.
Er spürte in seiner Hand inzwischen stechende Schmerzen, und der Verband hatte sich gelockert. Er wickelte ihn wieder herum und stecke ihn fest, so gut er konnte, dann stieg er in Sir Charles’ Haus hinüber, duckte sich hinter das Ledersofa, das Messer in der rechten Hand, und lauschte gespannt.
Als er nichts hörte, stand er langsam auf und sah sich um. Die Tür zum Flur war halb geöffnet, und es drang ausreichend Licht hinein, um zu sehen. Die Schränke, die Bücher regale, die Bilder vom Morgen waren alle da, unverändert.
Er trat auf den Teppich, der das Geräusch seiner Schritte schluckte, und sah nacheinander in die Schränke hinein. Das Alethiometer war nicht da. Es lag auch nicht auf dem Schreib tisch neben den ordentlich aufeinander gelegten Büchern und Papieren oder auf dem Kaminsims unter den Einladungen zu verschiedenen Eröffnungen und Empfängen, nicht auf dem gepolsterten Platz am Fenster und nicht auf dem achteckigen Tischchen hinter der Tür.
Er ging zum Schreibtisch zurück, um in den Schubladen zu suchen, obwohl er damit rechnete, dass sie verschlossen sein würden. In diesem Augenblick hörte er leise Reifen über Kies knirschen. Das Geräusch war so leise, dass er unsicher war, ob er es sich nicht nur eingebildet hatte. Trotzdem blieb er stehen und lauschte. Er hörte nichts mehr.
Dann hörte er, wie die Haustür aufging.
Er eilte zum Sofa zurück und duckte sich dahinter, neben sich das Fenster, das sich auf den silbern im Mondlicht liegenden Rasen in Cittàgazze öffnete. Er hatte sich gerade ge duckt, als er in der anderen Welt leichte Fußschritte über das Gras rennen hörte, und als er hindurchblickte, sah er Lyra auf sich zukommen. Er konnte gerade noch die Hand heben und einen Finger an die Lippen halten. Sie begriff, dass er Sir Charles’ Rückkehr bemerkt hatte, und wurde langsamer.
»Ich habe es nicht gefunden«, flüsterte er, als sie vor dem Fenster stand, »es ist nicht da. Wahrscheinlich hat er es mitgenommen. Ich passe auf, ob er es zurückstellt. Bleib hier.«
»Aber es ist etwas noch viel Schlimmeres passiert!«, sagte sie atemlos und in Panik. »Sie ist bei ihm – Mrs. Coulter – meine Mutter – ich weiß
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