Das Mal der Schlange
können wir nicht bleiben und von dort hat man wenigstens einen schönen Blick.“
Sie fuhren die kurze Strecke im Taxi um nicht nass zu werden und huschten in den Eingang des modernen und zugleich martialisch aussehenden Turmes, in dessen oberstem Stockwerk sich das Restaurant befand. Die unteren Räume beherbergten das New Museum of Scotland, aber das Dach und die Terrasse gehörten den Feinschmeckern.
Obwohl der Regen wild auf die spektakuläre Glasfront prasselte, war der Ausblick auf die Burg und den Dächerwald beeindruckend.
Viele der Tische waren besetzt, die Leute genossen ihr Mittagessen, aber der Ober brachte sie umgehend an einen schönen Platz in einer Nische, von dem aus man sowohl das Restaurant, als auch das Panorama im Blick hatte. Offensichtlich hielt er sie für zahlungskräftige Gäste.
„ Was möchtest du essen?“, fragte Nathaniel.
„ Nichts, ich bin nicht hungrig.“
Er rückte das Besteck und die Gläser ein wenig zurecht, „Emmaline. Sei kein Spielverderber, lass uns so tun, als wären wir normal.“
Eine verlockende Vorstellung. Sie sah ihn an, wie er aufmerksam die Speisekarte studierte und sich dabei geistesabwesend sein dunkles Haar aus der Stirn strich. Es war länger als bei ihrer letzten Begegnung und er trug es jetzt weniger ordentlich, fast etwas wild. Über seinem schneeweißen Hemd saß ein teures, maßgeschneidertes Jackett aus Londons Savile Row und er sah jung, erfolgreich und sehr wohlhabend aus. Der perfekte Gast für jedes gehobene Restaurant. Als der Ober wieder erschien, bestellte Nathaniel eine Flasche Champagner, Salat und Fisch für sie beide.
„ Ein leichtes Mittagessen, dazu ein guter Tropfen – es gibt weiß Gott schlimmeres, also entspann dich, Em.“
Sie faltete die schwere Serviette auseinander und legte sie auf ihren Schoß, dann brach sie ein Stück Gebäck ab und bestrich es mit gesalzener Butter.
„ In Ordnung. Wieso nicht. Wer weiß, wann wir wieder einmal die Gelegenheit dazu bekommen.“
Er lächelte sie an. Zwar standen nach wie vor ungeklärte Dinge zwischen ihnen, die sich auch momentan nicht würden bereinigen lassen, aber es schien ihm, als würde die alte Vertrautheit langsam zurück kehren.
Allerdings hatte sich die Basis ihrer Beziehung verändert. Emmaline war stärker geworden, unabhängiger und in ihrem Gesicht lag kein Leid mehr, sondern Optimismus. Die moderne Zeit schien ihr gut zu tun. Sie war nicht mehr dazu verdammt, in der Gesellschaft nur schmückendes Beiwerk zu sein, sondern sie war eine selbstbewusste, junge Frau geworden, die sich nicht an einen Mann binden würde, weil sie es musste, sondern nur, weil sie es wollte.
Irgendwann würden sie sich der Altlast ihrer Vergangenheit stellen müssen. Irgendwann. Aber nicht jetzt.
Der Champagner und das Essen waren hervorragend. Bis zum zweiten Gang hatten sie ihre anfängliche Schüchternheit überwunden und waren ins Gespräch vertieft, als Nathaniels Telefon klingelte.
„ Tut mir leid, ich habe vergessen, es auf lautlos zu stellen“, er legte seine Serviette auf den Tisch und stand auf, „Entschuldige mich bitte einen Augenblick, ich werde draußen telefonieren“.
Emmaline dachte zuerst, es wäre der Ober der Nathaniels Serviette wieder falten wollte, deshalb sah sie nicht sofort auf, als ein Mann an ihren Tisch trat.
„ Du hast sicherlich nichts dagegen, wenn ich mich für einen Augenblick zu dir setze, Schwester? Nur so lange, bis dein Freund wiederkommt.“, sagte eine melodische Stimme.
Sie erkannte ihn sofort. Das Bild, das sie gesehen hatte, wurde ihm nicht annähernd gerecht. In Wirklichkeit war sein Gesicht viel faszinierender. Er sah aus, als ob Michelangelo persönlich ihn geschaffen hätte, wie ein junger, wunderschöner David. Alles an ihm war exquisit, der Ton seiner Haut, das helle Braun seiner Haare, die langen, dichten Wimpern, die geschwungene Linie seines Kinns. Aber am meisten faszinierten sie seine Augen, sie konnte ihren Blick nicht davon lösen, bis er sagte, „Ich weiß, Emmaline, sie sehen genauso aus, wie die deinen. Eisgrau mit einem silbernen Flammenkranz. Aber unsere Augen sind nicht das Einzige, worin wir uns ähneln, wie ich feststellen musste.“
Sie wusste, dass sie in großer Gefahr schwebte und erwog einen kurzen Augenblick lang, einfach aufzuspringen und davon zu laufen, aber Tristan schien ihre Gedanken zu lesen, „Das würde ich nicht tun. Meine Männer sind überall. Wir beobachten Nathaniel draußen, während er
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