Das Mal der Schlange
Victors Befehl wurden sie alle abgeschlachtet – ich kann mir nicht vorstellen, dass ein passender Jäger für jeden einzelnen von ihnen vor Ort war. Ich glaube, dass auch Menschen getötet wurden, die keine farblosen Schwarz-Weiß-Opfer waren.“
Nun war es Nathaniel, der das Wort ergriff, „Wir hörten seine Anweisungen mit eigenen Ohren, Emmaline, Adam und ich. Sie lauteten, alle Söldner zu liquidieren. Niemand, kein Zeitjäger, kein Oberhaupt und auch nicht Victor darf sich zum Richter machen. Alleine deswegen hätte er schwere Konsequenzen zu befürchten – falls es zu einer Gerichtsverhandlung kommt.“
„ Das ist aber noch nicht alles.“, fuhr Tristan fort, „Ich weiß, dass Victor Liam getötet hat und dass er vorhat, auch Adam zu beseitigen.“
„ Was? Das glaube ich nicht!“
„ Solltest du aber. Liam und Adam sind die einzigen, die bezeugen können, dass Victor mich gegen meinen Willen zu einem Zeitjäger machte. Nachdem er erfahren hatte, dass ich mich an die Ältesten wenden wollte, brachte er einen der Zeugen bereits vorsorglich zum Schweigen - Liam. Wie passend, dass er anschließend alles mir in die Schuhe schieben konnte. Und Adam wird der nächste sein. Wenn er auch ihn tötet, steht Aussage gegen Aussage und das Wort eines Oberhauptes wiegt sicher mehr, als das eines Abtrünnigen…“
Emmaline stand langsam auf und ging hinüber zum Fenster. Sie drehte den beiden Männern den Rücken zu. Minuten vergingen während sie stumm hinaus starrte und nachdachte. Obwohl Nathaniel und Tristan wussten, dass sie so schnell wie möglich aus dem Dorchester verschwinden sollten, gaben sie ihr Zeit das eben gehörte zu verarbeiten.
Für Emmaline brach gerade die Welt, die sie die letzten hundert Jahre gekannt hatte, zusammen.
Natürlich hatte sich Victor in der letzten Zeit unberechenbar verhalten, aber er war doch immer derjenige gewesen, zu dem sie Vertrauen haben konnte. Und der die Kraft hatte, jedes Problem zu lösen.
War alles gelogen, was er ihr über Tristan erzählt hatte?
War er wirklich dazu fähig zu tun, wessen Tristan ihn gerade bezichtigt hatte?
Hatte er sogar den Mann getötet, der ihm über Jahrhunderte zur Seite gestanden war? Seinen besten Freund Liam?
Langsam lehnte Emmaline ihre Stirn gegen das kühle Glas des Fensters und sah hinunter.
Vom Licht der Straßenlaternen hell erleuchtet lief eine Gruppe junger Leute vorbei, lachend, wahrscheinlich auf dem Weg in den nächsten Club.
Wieso konnte sie nicht mit ihnen gehen? Ein normales Leben führen? Jung und unbeschwert sein?
Die Glasscheibe vor Emmalines Mund beschlug nicht, denn sie sie war so in Gedanken versunken, dass sie vergessen hatte zu atmen.
`Da hast du die Antwort. Du wirst nie mehr zu den Menschen gehören`, dachte sie bitter.
Tief in ihrem Herzen wusste sie, dass Tristan die Wahrheit sagte. Sie musste sich damit abfinden - die Familie in Edinburgh war zerbrochen. Nun galt es das Schlimmste zu verhindern.
„ Also schön“, ruckartig drehte sie sich um, „Was noch?“
Tristan sah sie an, „Es gibt noch vieles, was ich dir erzählen will, aber das sollten wir auf später verschieben. Wir müssen sofort von hier verschwinden. Ich möchte nur, dass du weißt, dass ich auch Georgianna nicht getötet habe.“
„ Du gabst mir im Tower Restaurant ihre blutverschmierte Kette und meintest, du hättest dir Victors Herz geholt. Das war ziemlich eindeutig!“
„ Ich habe mich manipulieren lassen, diese Dinge zu behaupten. Aber ich habe sie nicht ermordet, das musst du mir glauben.“
„ Wer sollte es sonst gewesen sein?“
Als ob er Angst hätte, ihn laut auszusprechen, flüsterte Tristan Emmaline den Namen ins Ohr.
Sie sah ihn lange und prüfend an. Tränen schossen ihr in die Augen und mit zitternden Händen suchte sie nach einem Taschentuch.
Nathaniel reichte es ihr.
„ Du weißt es?“, fragte sie ihn.
Stumm nickte er.
Das Telefon in ihrer Tasche summte plötzlich. Sie nahm es heraus, um die Nachricht zu lesen.
„ Oh nein! Wir müssen sofort gehen“, flüsterte sie.
64.
Nur einen Schritt abseits der großen Straßen Londons befindet sich ein Netz kleiner Gassen und Plätze, in denen der Verkehrslärm verstummt und sich Boutiquen mit Restaurants, Bars und Wohnhäusern abwechseln.
Durch die kalte, sternenklare Herbstnacht hallte das Mitternachtsläuten der umliegenden Kirchen.
Emmaline, Nathaniel und Tristan mussten eine Weile suchen, bis sie den winzigen Verbindungsgang zwischen zwei Häusern
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