Das Mal der Schlange
triftigen Grund ist es uns nicht gestattet, sie zu stören.“
Ein paar Minuten gingen sie schweigend nebeneinander her, ein jeder in Gedanken versunken, bis Emmaline sagte, „Das heißt also, dass wir alt werden und sterben können, wenn wir aufhören zu jagen?“
„ Ich würde dir nicht raten, jemals das Jagen einzustellen“, warnte Nathaniel, „Du würdest schwach werden und verwundbar. Und schließlich in eine Art Starre verfallen. Es wäre wie der Tod, nur ohne Erlösung. Um wirklich und für immer von dieser Welt verschwinden zu können, müsste dein Körper völlig zerstört werden.“
„ Und dann?“
„ Dann hätte deine Seele keinen Platz mehr, an dem sie wohnen kann.“
„ Wo würde sie dann hingehen?“
Er zuckte die Achseln, „Ich weiß es nicht.“
„ Das ist nicht sehr ermutigend!“
„ Deshalb sagte ich, es wäre nicht ratsam, das Jagen aufzugeben oder deinen Körper zu zerstören. Wir sind, was wir sind. Es ist besser, sich damit zu arrangieren und zu versuchen, ein guter Jäger zu sein.“
21.
Während ihres zeitaufwendigen Trainings unter Tage hatte Emmaline nicht bemerkt, dass in Edinburgh der Frühling eingekehrt war.
Die Wiesen standen in saftigem Grün und überall blühten bunte Blumen.
„ Ostern ist spät, in diesem Jahr“, meinte sie, als sie an Nathaniels Arm durch die Stadt schlenderte.
„ Aye“, nickte er, „und wie es aussieht, meint es der Wettergott gut mit uns“. Er sah hinauf zum tiefblauen Himmel, über den der warme Wind schneeweiße Wolken jagte.
Sie gingen einen schmalen Weg hinunter zu dem kleinen Flusslauf, an dem die Müller eine Mühle neben der anderen errichtet hatten und seit Jahrhunderten mit der Kraft des Wassers Korn zu Mehl mahlten.
Nachdem sie dem Pfad eine ganze Zeit lang gefolgt waren, schien es Emmaline, als ob sie gar nicht mehr in der Stadt wären. Die Vögel zwitscherten in den hohen Bäumen zu beiden Seiten des Flusses, Insekten tanzten in der Luft und das undurchdringliche Dickicht des Auwaldes hielt den Lärm der Straßen fern. Es war wunderschön, friedlich und ruhig.
Er blieb stehen und zog sie an sich. „Ich wollte dir das hier zeigen“, murmelte er leise, „Das ist mein geheimer Ort. Hierher komme ich, wenn ich allein sein möchte, oder wenn ich nicht will, dass mich jemand findet.“ Er küsste sie zärtlich, dann trat er zurück, bog die langen Äste einer Trauerweide zur Seite.
Geschützt vor den Blicken der Spaziergänger wölbte sich eine kleine Höhle in die Felswand hinter der Weide. Nach ein paar Metern knickte sie scharf nach links ab, so dass der hintere Teil vom Eingang aus nicht zu sehen war.
Emmaline trat um die Ecke und bemerkte, dass Wände und Decke nicht nur aus Stein bestanden, sondern aus Wurzelwerk und Stämmen, die nach oben spitz zu liefen und weit oben über ihren Köpfen ein kreisrundes Loch frei ließen, durch das sich Sonnenlicht in einem dicken Bündel senkrecht auf den Höhlenboden ergoss.
„ Nathaniel, das ist atemberaubend! Wer hat das gemacht?“
Er schloss sie wieder in seine Arme und lachte leise, „Die Natur, Emmaline. Diesen Ort gibt es schon eine sehr lange Zeit. Früher haben die alten keltischen Stämme Schottlands hier zu ihren Göttern gebetet. Mein Vater zeigte mir diesen Platz.“
Sie horchte auf. Er gab sonst nie etwas über seine Vergangenheit preis, „Dann bist du also hier geboren worden? In Schottland?“
Er nickte langsam.
„ Wann?“
„ Vor vielen, vielen Jahren. In einer dunklen Zeit, in der das Leben eines Menschen nichts wert war. - Also fast ein wenig wie heute. Nur schmutziger.“
„ Wann genau?“
Er verscheuchte die Frage mit einer Handbewegung, „Damals war der Castle Rock nichts weiter als eine Felsspitze aus Vulkangestein ohne eine Festung darauf. Erst viel später wurde dort ein Fort errichtet, es kamen mehr und mehr Siedler und die Magie dieses Ortes wurde vergessen. Aber das ist gut so, denn dadurch hat die Höhle wenigstens unbeschadet die Jahrhunderte überstanden.“
Emmalines Augen weiteten sich, als ihr die Bedeutung seiner Worte klar wurde.
„ Aber ich möchte nicht davon sprechen – du sollst nicht den Eindruck bekommen, dein zukünftiger Ehemann wäre zu alt für dich.“
„ Hattest du eine Familie?“
Er setzte sich auf einen großen umgestürzten Stein. „Ja, Emmaline, ich hatte eine Familie. Ich hatte eine Frau und ich hatte Söhne und Töchter und ich habe sie alle sterben sehen.
Einige davon sind alt geworden, manche im
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