Das marokkanische Mädchen. Ein Fall für Jacques Ricou
des Anrufers ließ sich nicht feststellen. Aber der Standort des Apparats, von dem er sprach, wies auf das obere Ende der Avenue Foch hin, nur wenige Hundert Meter entfernt vom Étoile und dem des Arc de Triomphe mit der Ewigen Flamme am Grab des Unbekannten Soldaten.
So war es dann auch im Abhörprotokoll des Renseignement Interieur, des neu benannten Inlandsgeheimdienstes vermerkt.
Nicht weit entfernt saß Georges Hariri allein in der Brasserie »Le Stella« in der Avenue Victor Hugo. Er hatte ein köstlich angemachtes Steak tartare mit Pommes frites gegessen, dazu ein Glas Bourgueil, den er dem Chinon vorzog, getrunken und wartete auf den Kaffee.
Einen Tisch weiter saß der alte Monsieur Dassault, der ihn mit einem kurzen Nicken beim Eintreten gegrüßt hatte. Georges Hariri hatte dabei so etwas wie Stolz empfunden. Serge Dassault weiß um meine Bedeutung, dachte er, und er schneidet mich nicht, sondern nimmt mich mit einem Kopfnicken wahr. Immerhin. Das war schon was. Denn der Flugzeughersteller Serge Dassault war nicht nur einer der fünf reichsten Franzosen, sondern inzwischen auch ein Medienunternehmer, dem unter anderem die konservative Tageszeitung
Le Figaro
gehörte. Und in
Le Figaro
war Hariri kürzlich als »der Schattenmann« bezeichnet worden, der für Präsident Nicolas Sarkozy als wichtiger Vermittler in Saudi-Arabien, Marokko und besonders im Libyen von Gaddafi eingesprungen war. »Schattenmann« wurde Hariri genannt, weil er sich stets im Hintergrund hielt, keine Interviews gab und in der Presse nur dann vorkam, wenn er es nicht verhindern konnte. Er hielt sich für umso wirksamer, je weniger die Öffentlichkeit von seinen Aktionen, die ihm viele Millionen einbrachten, wusste.
Hariri zögerte kurz, ob er den Anruf von einem Mobilphone mit unterdrückter Nummer annehmen sollte, aber er hatte ja Zeit und fühlte sich entspannt, also drückte er auf die grüne Taste.
»Sag mal Georges, steckst du dahinter?«, fragte eine durchdringende Stimme laut, »willst du mir Probleme machen? Dann hast du selbst auch bald eins, denn er hat ja nicht nur für mich und für dich gearbeitet, sondern auch für Ronsard!«
Hariri erkannte die Stimme von Alexandre Dati sofort. Und wenn Dati mit Ronsard, bis vor kurzem Innenminister in der abgewählten konservativen Regierung, drohte, dann empfand er das als boshaft.
»Wie kommst du auf diese Idee? Pass auf, was du sagst«, antwortete er in seiner leisen, unaufgeregten Stimme. »Ich habe keine Ahnung, wer dahintersteckt. Für mich ist es genau so ein Problem wie für dich. Denn wer holt uns jetzt die …« er zögerte kurz, wollte sich möglichst unverbindlich äußern und sagte schließlich, »… Kastanien aus dem Feuer?«
»Seit der Neue die Zahlungen blockiert, habe ich keine Kastanien mehr im Feuer. Das betrifft dann nur noch dich, Georges, und deine Lieferungen an Ronsard!«, sagte Alexandre Dati schnell.
Hariri war hellhörig geworden. Ganz gegen seine Gewohnheit sprach ihn Alexandre Dati die ganze Zeit mit Namen an. Ging er davon aus, dass dieses Gespräch abgehört wurde? Verwunderlich wäre es nicht. Vielleicht benutzte er deshalb ein Mobilphone ohne Kennung. Und vielleicht wiederholte er den Vornamen Georges mehrmals, damit die Leute vom Abhördienst einen Hinweis auf ihn hätten.
»Lass uns das nicht am Telefon besprechen, Iskandar«, sagte Georges Hariri. Und wie erwartet explodierte Alexandre Dati, als Hariri ihn »Iskandar« nannte.
Tatsächlich hatten Datis marokkanische Eltern ihrem Sohn bei der Geburt diesen Vornamen gegeben. Als er aber in die Pubertät kam und bei seinen Kumpels in der Banlieue angeben wollte, nahm er sich Alexander den Großen zum Vorbild. Ein Mann, der nicht nur ein großer Soldat und Heerführer war, sondern auch so klug, den Gordischen Knoten zu lösen. Wie? Mit Gewalt. Wie sonst?
Weil Dati, einmal von der Pariser Bourgeoisie respektiert, als gebürtiger Franzose gelten wollte, hatte er alle Spuren, die auf seinen ursprünglichen Vornamen »Iskandar« hinwiesen, beseitigen lassen. In seinen Papieren stand jetzt »Alexandre« als Vorname. Ja, er hatte es sogar geschafft, die Geburtsurkunde und die Eintragung im Geburtenregister beim Amt korrigieren zu lassen. Das war nicht ganz so einfach gewesen.
»Hör mit solchem Scheiß auf!«, schrie er jetzt ins Telefon. »Immer noch Alexandre!«
»Alexandre, meinetwegen. Ich war nur in Gedanken in unserer Jugend. Und was deine Anspielung angeht: Ich habe genauso wenig wie du
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