Das marokkanische Mädchen. Ein Fall für Jacques Ricou
Kinderkrankenhaus Necker zu verbreiten, Kalila sei in der Abteilung für Privatpatienten des Chefarztes untergebracht. Und dort solle er vor irgendeine beliebige, plausibel wirkende Tür eine Wache stellen. Aus schlechtem Gewissen nahm der Kommissar Jacques’ Bitte ohne Widerspruch an, obwohl sie ihm nicht einleuchtete. An einem normalen Tag hätten sie um diese Zeit vor ihrem Glas Bruichladdich gesessen und den Tag ausdiskutiert. Auch diese Sache. Aber jetzt schien der Untersuchungsrichter wegen des Verschwindens des Mädchens eingeschnappt zu sein.
Zu Recht? Immerhin könnte es sein, dass Jacques solch einen merkwürdigen Wunsch äußerte, weil er eine Information oder gar eine Spur hatte, die zu Kalila führte.
Auf dem Weg zur Metro drückte Jacques die Kurzwahltaste vier. Jérôme meldete sich sofort und sagte, ohne einen Gruß abzuwarten: »Wann kannst du beim ›Aux Folies‹ sein?«
»Spätestens in zwanzig Minuten. Ich steige jetzt in die Metro.«
»Gut. Ich warte da. Bis gleich!«
Der Arzt trennte die Verbindung sofort.
Mit jeder Station, mit der Jacques sich Belleville näherte, änderte sich das Publikum in seinem Wagen. Die Kleidung der Passagiere, die einstiegen, wurde bunter und lässiger. Und ihr Aussehen entsprach immer weniger dem Kernsatz über die Herkunft der Franzosen, der immer noch in jedem französischen Schulbuch steht: »Nos ancêtres les Gaulois – Unsere Vorfahren, die Gallier.« Jetzt stiegen Menschen ein, deren Vorfahren eher aus der Karibik, aus dem Maghreb oder aus Asien stammten. Jérôme wartete vor Gastons Bistro, winkte Jacques zu, als er von der Metrostation die Straße herauflief, gab ihm kurz die Hand und sagte: »Wir gehen die Straße hoch zu mir. Ich habe dir am Telefon nichts gesagt, denn weißt du, wer heute alles mithört? Ich bin sicher, der Geheimdienst lässt deine Gespräche immer noch aufzeichnen.«
Damit spielte er darauf an, dass Agenten des Inlandsgeheimdienstes einmal auf Jacques angesetzt worden waren, als er den Staatspräsidenten und dessen Regierungspartei mit seinen gerichtlichen Untersuchungen in die Bredrouille brachte.
Die Rue de Belleville steigt nach dem Bistro »Aux Folies« steil an. Sie kamen an Jacques’ Haus vorbei, in dem er in der letzten Etage wohnte. Nur vierhundert Meter weiter oben lag Jèrômes Wohnung in der Cour de la Métairie, einem weiten Innenhof, der so benannt worden war, weil vor Jahrhunderten ein Pachthof an dieser Stelle gelegen hatte.
An der linken Seite des Eingangs erinnerte eine Marmorplakette daran, dass im Juli 1942 die französische Polizei hier die Juden aus Belleville zusammengetrieben und dann fortgebracht hatte. In die deutschen Konzentrationslager.
Die Schuhfabrikation Berthelot war vor einigen Jahrzehnten aus ihren Ateliers gezogen und hatte Platz gemacht für Wohnungen mit großen Fenstern. Jérôme wohnte in der vierten Etage mit einem grandiosen Blick über die Dächer von Paris bis hin zum Eiffelturm.
Jacques war noch nie bei ihm zu Hause gewesen. Sie trafen sich im Bistro oder im Restaurant. Jetzt war er erstaunt über dessen großzügige Wohnung. Seine Praxis lag eine Etage tiefer, was Jacques ebenso verwunderte, denn eigentlich reicht einem Arzt wie Jérôme, der weder Laborantin noch Helferin beschäftigt, ein Besprechungsraum neben dem Wartezimmer.
»Jacques, hast du schon deinen abendlichen Whisky getrunken?«
»Nein, heute bin ich vor lauter Aufregung nicht dazu gekommen. Und jetzt erklär mir bitte, weshalb alles in Ordnung ist, wie du mir auf die Mailbox gesprochen hast.«
Jérôme ging an einen alten Medizinschrank mit Glastüren in der oberen Hälfte, nahm zwei Gläser und eine Whiskyflasche heraus und schob eine Handfläche in Richtung Jacques, womit er andeuten wollte: warte einen Moment. In der Küche ging die Tür des Kühlschranks auf, Jacques hörte Eiswürfel in Gläser klimpern, Jérôme kam mit zwei Whiskys zurück, stellte einen vor Jacques auf ein flaches Tischchen und ließ sich mit einem lauten Seufzen in einen bequemen Sessel fallen. Dann hob er sein Glas wie zum Gruß und nahm einen kleinen Schluck. Und einen zweiten.
»Ist wirklich alles in Butter«, beruhigte Jérôme ihn. »Wie ich gesagt habe: Lass dich nicht ins Bockshorn jagen. Warum, willst du wissen? Nun, nach dem, was du mir gestern Abend erzählt hast, ging ich davon aus, dass das Mädchen in Gefahr ist. Wenn nämlich gestern Nacht jemand versucht hat, sich im Necker in die geschlossene Abteilung
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